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Ob als Ärztin oder Pflegekraft: Migrantinnen, die große Mehrheit sind Frauen, sind unverzichtbar im Gesundheitssystem.

© Alvaro Sanchez/imago

Einwanderungsgesellschaft: Deutschlands Gesundheitssystem hängt von Migration ab

Ohne Menschen mit Einwanderungsgeschichte stünde das deutsche Gesundheitssystem vor dem Kollaps. Der Jahresbericht der Migrationssachverständigen nennt Zahlen.

Der Beitrag von Migrantinnen und Migranten - vor allem Frauen - zum deutschen Gesundheitssystem ist enorm und geht über deren Anteil an der Bevölkerung weit hinaus: Allein etwa 130.000 Ärztinnen und Ärzte in Deutschland haben laut Mikrozensus einen Migrationshintergrund, also mehr als ein Viertel der Ärzteschaft (27,3 Prozent).

Und die große Mehrheit, 83 Prozent, sind selbst eingewandert. Im aktuellen Jahresbericht des "Sachverständigenrats Integration und Migration" (SVR), der sich ganz dem Thema Migration und Gesundheit widmet, sind außerdem Zahlen zur Kranken-, Gesundheits- und Altenpflege insgesamt enthalten. Dort hat sich der Anteil Eingewanderter zwischen 2013 und 2019 verdoppelt. Ein knappes Drittel aller Beschäftigten ist entweder selbst nach Deutschland gekommen oder hat im Sinne der deutschen Statistik einen Migrationshintergrund, stammt also aus einer migrantischen Familie.

Während im ärztlichen Fachpersonal auch der Anteil von Menschen aus dem Nahen und Mittleren Osten stark ist, stammt der Zuwachs insgesamt, also mit Krankenschwestern, Pflegern und Pflegehilfen, mehrheitlich aus Mittel-, Ost- und Südosteuropa.

Die größte ausländische Ärztegruppe sind Syrer:innen

Syrische Ärzt:innen sind inzwischen die stärkste einzelne Gruppe unter denen mit ausländischer Staatsbürgerschaft. Ihr Anteil hat sich seit 2010 mehr als versechsfacht. 5000 Ärztinnen und Ärzte aus Syrien praktizieren inzwischen hier. "Ohne Migrantinnen und Migranten stünde das deutsche Gesundheitssystem vor dem Kollaps", resümierte am Dienstag Petra Bendel, die Vorsitzende des Sachverständigenrats, als sie das Jahresgutachten vorstellte.

Schon jetzt ist laut Gutachten jede und jeder sechste Beschäftigte (16,5 Prozent) in einem Gesundheits- und Pflegeberuf nicht in Deutschland geboren, und die Fachleute prognostizieren, dass sich dieser Anteil in einer älter werdenden Gesellschaft noch erhöhen wird.

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Der SVR hat in Migrationsfragen eine ähnliche Rolle wie die bekannteren Wirtschaftsweisen. Das Gremium, dessen Mitglieder Migrations:forscherinnen verschiedenster Fächer sind, aus Soziologie, Politikwissenschaft, Jura, Geschichte, beurteilt in regelmäßigen Abständen die Gesamtlage, erstellt Papiere zu ausgewählten Einzelthemen und berät die Politik, vor allem Regierung und Parlament. Alle zwei Jahre - auch in diesem Jahr - erstellt der SVR das "Integrationsbarometer", eine repräsentative Studie, die das Integrationsklima in Deutschland misst, indem sie die Einstellungen und Erfahrungen in der Einwanderungsgesellschaft abfragt.

Die Daten zeigen, dass auch die Mediziner:innen vor allem da Lücken füllen, wo deutsche Kolleg:innen fehlen: Sie arbeiten bevorzugt in Kliniken, in Kleinstädten und auf dem Land. In den fünf ostdeutschen Bundesländern ist der Anteil ausländischer Ärztinnen und Ärzte mit 15 Prozent ungefähr dreimal so hoch wie der ausländische Anteil an der Bevölkerung. In Berlin oder Hamburg mit ihrer hohen Ärztedichte ist ihr Anteil dagegen besonders gering.

Die Zahl der Ärzt:innen, die an deutschen Universitäten ausgebildet werden, ist seit 2007, schreibt der SVR, praktisch gleich geblieben - hier wirkt der der Numerus clausus, die Zugangsbeschränkung zum Medizinstudium in Deutschland.

Noch deutlicher füllen Migrant:innen in der Altenpflege große Lücken. Ihr Anteil stieg allein zwischen 2013 und 2019 um fast sechs Prozentpunkte. Bei Pflege- und ärztlichem Personal ingesamt verdoppelten sich die Anteile im selben Zeitraum - "angesichts der für diesen Sektor aus guten Gründen besonders hohen Zugangshürden ein beachtlicher Zuwachs", heißt es im Gutachten des SVR.

Gesundheitssystem versteht zu wenig von kultureller Vielfalt

Die Anerkennung ausländischer Ausbildungen und Qualifikationen bleibe aber "der neuralgische Punkt". Trotz des Anerkennungsgesetzes, das vor genau zehn Jahren erstmals einen Anspruch auf diese Anerkennung gab, mahnt der SVR nicht zum ersten Mal, dass der auch in die Praxis umgesetzt gehöre: Wer neu nach Deutschland komme, kenne die Wege in der Verwaltung meist nicht, jedes Land setze das Bundesgesetz anders um.

"Wir brauchen einen Effizienz- und Transparenzschub", mahnte die SVR-Vorsitzende Bendel. Die Länder sollten die Verfahren an möglichst einer Stelle bündeln, eine einziges Amt Anträge aus dem Ausland zentral entscheiden. Länder könnten sich auch auf bestimmte Berufsfelder spezialisieren und die Aufgaben so teilen. Außerdem müssten alle Beteiligten, Konsulate, Anerkennungsbehörden, die Bundesagentur für Arbeit enger zusammenarbeiten: "Der Zuwanderungsprozess muss als Ganzes gesehen werden."

Mit Zustrom aus dem Ausland allein, so prophezeit der SVR im Gutachten, werden die Personalprobleme des deutschen Gesundheitswesens allerdings nicht zu lösen sein. Zeitdruck und Überlastung machten nicht nur einheimischen Beschäftigten in den Krankenhäusern das Leben schwer und brächten viele dazu, den Beruf aufzugeben.

"Darüber hinaus muss aber auch das Gesundheitswesen insgesamt diversitätssensibler werden", heißt es im Gutachten. Beschäftigte mit einer ausländischen Ausbildung oder Vorerfahrungen sehen sich besonderen Belastungen ausgesetzt. Sie klagten oft darüber, auch am Arbeitsplatz abgewertet, weniger ernstgenommen zu werden - auch von Patient:innen - oder weniger Hilfe und Einarbeitung zu bekommen. Altenpflegerinnen, die mit ihren alten Klienten in einem Haus leben und 24 Stunden für sie zuständig sind, stecken in einem unfairen bis ausbeuterischen Arbeitsverhältnis.

Ein Mangel an Verständnis für kulturelle Verschiedenheit setzt auch Patientinnen und Patienten mit Migrationshintergrund zu. Der SVR wollte keine allgemeinen Aussagen treffen. Dazu sei die migrantische Bevölkerung zu unterschiedlich, auch die Daten über Migration und Gesundheit seien sehr lückenhaft in Deutschland. "Wir brauchen mehr Public-Health-Forschung", sagte SVR-Mitglied Hans Vorländer, Politikwissenschaftler und Migrationsspezialist an der TU Dresden.

Generell gelte aber, so der SVR, dass vor allem psychisch und physisch gesunde Menschen sich den Strapazen einer Migration aussetzen, so dass ihr Gesundheitszustand meist zu Beginn besser sei als im Schnitt ihres Herkunftslands.

75 Prozent der Schwarzen Menschen sehen sich in Klinik und Praxis diskriminiert

Das schwinde jedoch im Land der Ankunft meist bald: "Dafür können die langfristigen Auswirkungen sozioökonomischer Benachteiligung verantwortlich gemacht werden", heißt es in der Studie. Flüchtlinge könnten zudem Traumata durch die Flucht mitbringen, die sie psychisch krank machten.

Viola B. Georgi, Erziehungswissenschaftlerin, Professorin für Diversity Education in Hildesheim und ebenfalls eine der neun SVR-Sachverständigen, wies auf die Zahlen hin, die 2020 der erste Afrozensus erhoben hatte und die die Diskriminierungserfahrung sichtbarer Minderheiten greifbar macht. Die Untersuchung, die Menschen afrikanischer Herkunft in Deutschland galt, zeigte, dass fast alle Diskriminierungserfahrungen machten. Drei Viertel der Befragten gaben an, im Gesundheitssystem wegen ihrer Hautfarbe herabgesetzt worden zu sein. So sahen sie ihre Beschwerden nicht ernst genommen, oder sie wurden unterschätzt.

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