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Geflüchtete warten am Dienstag auf die Fähre, die sie von Lesbos aufs griechische Festland bringen soll.

© Manolis Lagoutaris/AFP

Einwanderung in die EU: Europa wird attraktiv für Hochqualifizierte

Die UN-Migrationsorganisation IOM prognostiziert mehr Einwanderung nach Europa bis 2030 – aber weniger Asylgesuche.

In den nächsten zehn Jahren werden wieder mehr Menschen nach Europa einwandern als in den Jahren vor der großen Flucht 2014/2015. Allerdings wird sich die Lage von vor fünf Jahren nicht wiederholen. Das prognostiziert eine Studie der UN-Migrationsorganisation IOM, die dafür die gesamte Literatur zum Thema in den Blick nahm und deren Ergebnisse von weltweit 178 Migrationsfachleuten bewerten ließ.

Die Studie mit dem Titel „Assessing Migration Scenarios  For The European Union in 2030. Relevant, Realistic And Reliable?“, die am Dienstag auf der Jahreskonferenz des „European Migration Network“ in Wien vorgestellt wird und die dem Tagesspiegel vorab vorlag, sagt für die Zeit bis 2030 zudem voraus, dass die Zahl der Asylanträge in der Europäischen Union eher nicht steigen wird oder sogar fallen könnte.

Die Welt 2030: Mehr nationaler Egoismus, Nord-Süd-Gefälle bleibt

Einen drastischen Anstieg sieht sie allerdings bei gutausgebildeten und hochqualifizierten Einwandererinnen und Einwanderern, die es nach Europa ziehen wird. „Im Szenario, das die Fachleute als wahrscheinlichstes einschätzen, wird die jährliche Zahl hochqualifizierter Immigranten, verglichen mit der jährlichen Durchschnittszahl, die für die Zeit zwischen 2009 und2018 verzeichnet wurde,  in Europa 2030 um 134 Prozent höher liegen“, heißt es im Text.

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Die Studie listet dafür auch die Faktoren auf, die dieser Entwicklung Vorschub leisten werden und längst einkalkulierbar sind: eine wachsende Nachfrage nach Pflege- und Gesundheitsleistungen der älter werdenden europäischen Bevölkerung, ein Schrumpfen der arbeitsfähigen Generation durch geringere Geburtenraten, die zunehmende Bedeutung von Klima- und Umweltschutz, der stärkere Einfluss von Automation und Digitalisierung in den Volkswirtschaften und vor allem für die Arbeitsmärkte.

Die Studie nutzte das sogenannten Delphi-Verfahren zur Bewertung von Prognosen, die ja stets von Annahmen ausgehen, die nicht zwingend Wirklichkeit werden oder sich ändern können. Dafür werden Fachleute mit einschlägiger und möglichst langjähriger Expertise - hier kamen sie aus Forschung und Migrationspraxis - in einem mehrstufigen Verfahren nach ihrer Einschätzung vorhandener Szenarien gefragt, in der Regel anonym und einzeln, um Gruppendruck und die Dominanz Einzelner auszuschalten. Voraussagen, über die weitgehender Konsens besteht, werden damit als wahrscheinlicher bestätigt.  

Dieser Konsens bestand in der IOM-Studie nicht nur für die Zusammensetzung und Größe der Einwanderung, sondern interessanterweise auch für die weltweite politische Großwetterlage bis in zehn Jahren. „In der vorliegenden Studie“, schreiben die Autorinnen und Autoren der IOM, „bezeichnen die Fachleute es für die Europäische Union 2030 als unwahrscheinlichstes Szenario, dass die Staaten ihre Aufgaben auf dem Weg internationaler und multilateraler Zusammenarbeit lösen und dass die Regionen der Welt sich wirtschaftlich annähern.“ Kurz: Man rechnet also pessimistisch eher mit einer Zunahme nationaler Egoismen und nicht  damit, dass sich das wirtschaftliche Nord-Süd-Gefälle auf der Welt deutlich abschwächt.  

Prognosen sind nicht sofort in Migrationspolitik umzusetzen

Die IOM und das niederländische „Interdisziplinäre demografische Institut" NIDI, die für ihre Studien-Studie zusammengearbeitet haben, halten sie unter anderem wegen der hohen Zahl von qualifizierten Teilnehmenden – 178 Forscherinnen und Praktiker - für einzigartig. Sie nennen aber auch ihre Grenzen, die offensichtlich auch die Mehrheit der Befragten teilt: „Delphi-Studien müssen für das genommen werden, was sie sind: Ein Werkzeug, um Meinungen und Einschätzungen von ausgewählten Personen zu sammeln, nicht um statistisch repräsentative Daten zu bekommen.“

Die Forschungsgruppe ist sich außerdem des politisch Heiklen solcher Übersichten bewusst. Die Migration in den Norden der Welt habe das Bedürfnis der Politik nach verwertbarer Analyse steigen lassen. Die könne Forschung aber oft nicht liefern, jedenfalls nicht kurzfristig: „Der Dissens der Forschenden in dieser Delphi-Studie zeigt, dass es an Wissen darüber fehlt, wie grundlegende Motoren von Migration auf künftige Migrationsbewegungen wirken könnten.“

Solche Unsicherheiten seien ein Problem für Entscheidungsträger, die von der Forschung klare Botschaften verlangten, um sie in Politik umzusetzen. Die Politik fordern sie auf, Expertenmeinungen und Szenarien folglich nicht nach deren sofortiger Umsetzbarkeit zu beurteilen, „sondern vielmehr nach ihrem Potenzial, Debatten-Material für die politische Planung zu liefern“.  

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