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Die Preisträgerin Claudia Andujar, schweizerisch-brasilianische Fotografin und Menschenrechtlerin, bei der Verleihung der Goethe-Medaillen 2018 im Stadtschloss.

© Jens Kalaene/dpa

Einträge ins LOGBUCH: Was mir um Chemnitz wissend nicht von der Zunge ging

Während der Ausschreitungen in Chemnitz erhielt in Weimar eine Menschenrechtlerin die Goethe-Medaille. Sie floh vor dem Holocaust. Eine Kolumne.

Als am Montag Neonazis in Chemnitz aufmarschierten, befand ich mich nicht in Sachsen. Ich befand mich in Thüringen, wo am nächsten Tag, an Goethes Geburtstag, in Weimar die Goethe-Medaille verliehen wurde. Während Rechtsextremisten in Chemnitz Parolen riefen, stand ich in der Anna-Amalia-Bibliothek. In dem berühmten Rokoko-Saal mit Büchern aus Goethes Zeit, in hellblauen Regalen, von ihm selbst sortiert, befand sich auch die Fotografin Claudia Andujar, eine der Preisträgerinnen. Eine Frau, die als Kind alleine zur Gestapo lief, um ihre Mutter im Gefängnis zu besuchen, so Stephen Corry, ein Anthropologe und Wegbegleiter Andujars, in seiner Laudatio. Die Familie ihres Vaters, eines ungarischen Juden, wurde von den Nazis ermordet. Sie rettete sich mit ihrer Mutter über die Schweiz nach New York und zog 1955 nach Brasilien.

In dieser Bibliothek in Weimar verschränkten sich verschiedene Ebenen von Ort und Zeit: Wir befanden uns in einem Raum, der so aussah, als wäre Goethe kurz rausgegangen für einen Kaffee und würde gleich wiederkommen – wir standen hier mitten in der Weimarer Klassik, deren Ende auf den Tod Goethes 1832 datiert wird, 101 Jahre vor der Machtergreifung Hitlers. Mit mir befand sich im selben Raum eine Überlebende der Schoah, die Fotografin Claudia Andujar, die ihr künstlerisches Lebenswerk auf die Rettung der Yanomami-Indigenen in Brasilien ausgerichtet hatte.

In den Yanomami-Indigenen fand die Fotografin eine neue Familie

Verwaist in einer mordenden Welt hatte sie in einem Land, deren Sprache sie zunächst nicht verstand, die Sprache der Bilder gefunden. In ihrer Dankesrede berichtete sie, dass sie zum ersten Mal 1971 auf Mitglieder der Yanomami traf. In ihnen fand sie, wie sie sagte, eine neue Familie. Für sie, die wusste, was Auslöschung hieß, gab es bei dieser Begegnung kein anderes System als das der Solidarität. Zusammen mit dem Yanomami-Vertreter Davi Kopenawa und der NGO Survival International bewirkte sie, dass der brasilianische Staat den Yanomami ein Schutzreservat auf ihrem Territorium zusicherte. Auch Davi Kopenawa, mit dem Claudia Andujar ihre Auszeichnung teilte, stand hier mit uns in Goethes Bibliothek. So verknüpften sich die Bücher hier für einen Augenblick mit den brasilianischen Wäldern, die sein Zuhause sind: Was in einer Bibliothek in Weimar geschah, hatte etwas zu tun mit den Wäldern Brasiliens, und auch mit der Pogromsehnsucht in Chemnitz. Wir leben in einer verschränkten Welt, in der etwas, das an einem Ort geschieht, Dinge an anderen berührt.

Ich fragte mich, ob Claudia Andujar etwas von den Ausschreitungen in Chemnitz wusste und was es in ihr auslösen würde, zu erfahren, dass jetzt, in ebendiesem Augenblick, Rechtsextremisten durch die Straßen zogen, teils den Hitlergruß machten – Menschen jagten. Es ist das erste Mal im Leben der 87-jährigen Frau, dass sie nach Deutschland kommt. Ich unterstand mich, ihr diese Frage zu stellen. Gerne hätte ich ihr erzählt, was mir mit dem Wissen um Chemnitz nicht von der Zunge ging: dass es zum Beispiel der Geist einer Anna Amalia sei, der unserer Lebensweise in Deutschland eine Ausrichtung gibt. Der Geist einer Frau, die ihre Bibliothek fürs Volk öffnete, ohne die es keine Weimarer Klassik gegeben hätte. Im Beethovenpark hinter der Bibliothek steht das Hafis-Goethe-Denkmal mit einem in Granit geschlagenen Zitat aus dem „West-östlichen Divan“: „Wer sich selbst und andere kennt / Wird auch hier erkennen / Orient und Okzident / Sind nicht mehr zu trennen“. Aber sich selbst und andere zu kennen, erfordert Mut und Herz.

Deniz Utlu

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