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Angriff auf die Polizeikette. Agressiv und weitgehend ohne Masken zogen 20.000 Querdenker vergangenen Sonnabend durch Kassel. Die Polizei war überfordert.

© Swen Pförtner/dpa

Exklusiv

Einstufung als Verdachtsfall: Thüringen für bundesweite Beobachtung der Querdenker durch Verfassungsschutz

Thüringens Innenminister Georg Maier ist alarmiert. Er befürchtet angesichts der jüngsten Krawalle von Coronaleugnern in Kassel eine weitere Radikalisierung

Von Frank Jansen

Thüringen wagt sich erneut etwas weiter vor als andere Länder. Innenminister Georg Maier (SPD) regt angesichts der Radikalisierung der Querdenker-Bewegung die bundesweite Einstufung als Verdachtsfall für den Verfassungsschutz an. Dem Nachrichtendienst wäre dann erlaubt, die Coronaleugner mit speziellen Methoden wie der Überwachung des E-Mail-Verkehrs und der Werbung von V-Leuten unter die Lupe zu nehmen.

Die Querdenker-Bewegung „könnte zum Verdachtsfall von Verfassungsschutzbehörden erklärt werden“, sagte die Sprecherin des Thüringer Innenministeriums am Donnerstag dem Tagesspiegel. Das gelte nicht nur für Thüringen, sondern bundesweit. Die Ausschreitungen bei den Demonstrationen der Bewegung, zuletzt in Kassel und Dresden, seien „total alarmierend“.

Vergangenen Sonnabend waren 20.000 Querdenker durch Kassel gezogen. Erlaubt waren nur zwei Kundgebungen mit 6000 Teilnehmern. Die aggressive Menge attackierte die Polizei, diese setzte Wasserwerfer ein. Am Rande der Demonstration wurden Journalisten gewaltsam von Coronaleugnern attackiert. In Dresden hatten eine Woche zuvor Querdenker Polizeiketten durchbrochen. Zwölf Beamte wurden verletzt.

Thüringen hatte schon früh die AfD als Verdachtsfall eingestuft

Der Thüringer Verfassungsschutz war bereits Vorreiter bei der Beobachtung der AfD. Der Verfassungsschutz des Freistaats erklärte als erster Nachrichtendienst im März 2020 den gesamten Landesverband der Partei wegen rechtsextremer Bestrebungen zum Verdachtsfall. Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Sachsen zogen dann mit der Einstufung der regionalen AfD-Verbände nach.

Dem Thüringer Verfassungsschutz sei bekannt, dass bei der heterogenen Querdenker-Bewegung „immer mehr regieführend Rechtsextremisten, Reichsbürger, Verschwörungsfantasten ihren Einfluss geltend machen“, sagte die Sprecherin des Innenministeriums. Bei den Organisatoren der Querdenker-Demonstrationen sei „vermehrt Vokabular der Reichsbürgerszene festzustellen“.

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Ähnlich wie die Reichsbürger, die der Bundesrepublik die staatliche Legitimität absprechen, diffamieren auch Coronaleugner die Regierung Merkel als „Diktatur“. Der Thüringer Verfassungsschutz prüft zudem mit den Kollegen in anderen Ländern und im Bund, ob bei der Querdenker-Bewegung auch ein eigener Extremismus entsteht, ein „Extremismus sui generis“. Das Analyseverfahren dauere an, hieß es in Erfurt. Die Bewegung weise „ein hohes Maß an Demokratiefeindlichkeit“ auf. Eine weitere Radikalisierung sei nicht auszuschließen. Schon jetzt seien sinkende Hemmschwellen bei der Gewaltbereitschaft zu beobachten. Das Ministerium verwies auf die Angriffe von Coronaleugnern in Kassel und Dresden auf Polizisten und Journalisten.

Weitere Länder offen für Beobachtung der Coronaleugner

Das erste Land, das den Verfassungsschutz auf die Coronaleugner ansetzte, war Baden-Württemberg. Im Dezember 2020 stufte der Nachrichtendienst die Bewegung „Querdenken 711“ als Beobachtungsobjekt ein. Im März richtete nun Bayerns Verfassungsschutz ein „Sammelbeobachtungsobjekt ,Sicherheitsgefährdende demokratiefeindliche Bestrebungen’“ ein, um einzelne, stark radikalisierte Coronaleugner in den Blick zu nehmen.

Bei einer Umfrage des Tagesspiegels in dieser Woche zeigten sich zudem Berlin, Nordrhein-Westfalen, Sachsen und Bremen offen für eine Beobachtung der Querdenker-Szene durch den Nachrichtendienst. Berlins Innensenator Andreas Geisel (SPD) sagte, er halte es für richtig, „wenn die Verfassungsschutzbehörden dort mit ihren Mitteln genauer hinschauen“. Die Demonstrationen in Kassel und Dresden hätten erneut gezeigt, „dass unter dem Deckmantel der Corona-Kritik verfassungsfeindliche Kräfte wirken“.

Bremens Innensenator Ulrich Mäurer (SPD) ließ mitteilen, „die zunehmend ablehnende, teilweise aggressive Haltung von Angehörigen der Querdenker-Bewegung gegenüber der Polizei und den Medien im Rahmen von Demonstrationen sowie die verbreitete Akzeptanz antisemitisch konnotierter Verschwörungsideologien erfordern eine verstärkte Befassung mit der Bewegung im Verfassungsschutzverbund“. Das Bundesinnenministerium betonte, das Bundesamt für Verfassungsschutz beobachte bei den Protesten „sehr aufmerksam“ die zunehmende Radikalisierung einiger Akteure.

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