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Das amerikanische Wahlsystem sieht sich immer wieder dem Vorwurf ausgesetzt, undemokratisch zu sein.

© Mark Makela/Getty Images/AFP

Eine Idee aus der Postkutschenzeit: Wie undemokratisch ist die Präsidentenwahl?

Die Kritik an der indirekten Wahl des US-Präsidenten ist einseitig. Der Bundesrat und das Europäische Parlament sind weit weniger repräsentativ. Eine Analyse.

Der Vorwurf ist bei jeder US-Präsidentschaftswahl zu hören: Die indirekte Wahl des Staatsoberhaupts über das Wahlmännergremium sei undemokratisch. Denn es könne dazu kommen, dass nicht die Person mit den meisten Stimmen, dem „Popular Vote", gewinnt. Sondern die Person, die mindestens 270 Wahlmänner durch Siege in den getrennt ausgezählten Bundesstaaten, erringe. Das System sei also nicht proportional repräsentativ.

Hillary Clinton hatte 2016 rund drei Millionen Stimmen Vorsprung vor Donald Trump, erzielte aber nur 232 Wahlmänner, Trump 306. Das tatsächliche Ergebnis der Wahlleute-Abstimmung im Dezember 2016 war dann nochmals anders, denn mehrere stimmten anders als erwartet: 304 für Trump, 227 für Clinton. Sieben gaben ihre Stimme anderen Personen.

2020 hat Joe Biden beim derzeitigen Auszählungsstand rund vier Millionen Stimmen Vorsprung im Popular Vote. Nach Wahlmännern ist die Wahl am Freitagnachmittag noch nicht entschieden. Biden steht bei 253, Trump bei 213 Wahlmännern. Fünf Staaten sind noch nicht ausgezählt

Der „Fehler“ mangelnder Proportionalität wird vor allem in Deutschland moniert, das ein Verhältniswahlrecht hat. Die Sitze im Bundestag werden nach dem Stimmengewicht der Parteien verteilt, die die Fünf-Prozent-Hürde überwunden haben.

Die Zusammensetzung der zweiten Parlamentskammer, des Bundesrats, ist allerdings nicht proportional. Hier taucht der gleiche „Fehler“ auf, den viele Deutsche am US-Wahlmännersystem kritisieren. Das spielt jedoch beim Urteil der meisten Deutschen über das US-System keine Rolle.

Viele andere europäische Gesellschaften üben weniger Kritik am US-System. Vor allem, wenn sie selbst ein Mehrheitswahlrecht praktizieren, das ebenfalls zu Verzerrungen gegenüber dem proportionalen Gewicht der Wählerstimmen führt.

Was ist der Ursprung des Wahlmännersystems?

Es ist ein Kompromiss zwischen den Verfassungsvätern, die eine Direktwahl des Präsidenten durch das Volk wollten, und denen, die seine Wahl durch die gewählten Volksvertreter für besser hielten. Wahlleute sind de facto Delegierte der Bürger für den einzigen Zweck der Präsidentenwahl.

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Zudem stammt das System aus der Postkutschenzeit. Wenn eine Präsidentenwahl anstand, wählten die Bürger in ihren Gemeinden Männer ihres Vertrauens und schickten sie in die nächste Kreisstadt. Dort wählten sie mit den Vertretern aus anderen Gemeinden eine kleinere Gruppe von Männern des Vertrauens, die in die Hauptstadt des Bundesstaats geschickt wurden.

Und die wählten dort mit den Vertretern anderer Bezirke die Zahl an Wahlmännern, die für diesen Bundesstaat bei der Präsidentenwahl durch das Wahlmännergremium in der Bundeshauptstadt Washington DC teilnehmen sollten. In den ersten Jahrzehnten der jungen USA traf sich das Wahlmännergremium in anderen Städten der Ostküste.

Wahlleute gibt es wirklich. Manchmal wählen sie überraschend

In modernen Zeiten werden die Wahlleute wie rechnerische Größen betrachtet. Sobald die Stimmen in einem Staat ausgezählt sind, bekommt der Sieger nach dem „Winner takes all“-Prinzip alle Wahlleute dieses Staats zugesprochen. Präsident wird, wer 270 der 538 Wahlleutestimmen auf sich vereint.

Normalerweise kennt man das Wahlergebnis bereits in der Wahlnacht; manchmal dauert die Auszählung länger wie 2000 und 2020. Das Gremium tritt tatsächlich Mitte Dezember zusammen, um die Präsidentenkür vorzunehmen. Obwohl immer wieder Einzelne gegen ihren Auftrag verstoßen und „faithless“ für eine andere Person stimmen, gilt dieses Votum in der öffentlichen Wahrnehmung als formaler Akt, der den Volkswillen vollzieht.

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Die US-Bürgerinnen und Bürger sind gespalten in der Wertschätzung dieses Systems. Sie sehen die Verzerrung zwischen dem „Popular Vote“ und dem „Electoral College“ (Wahlmännergremium).

Daran stören sich jedoch vor allem die Demokraten, die bei der Gesamtstimmenzahl vorn liegen, und weniger die Republikaner, die dank des Wahlmännersystems ähnlich oft den Präsidenten stellen, obwohl ihr Kandidat weniger Stimmen aus der Bevölkerung bekam. Und im Ausland stören sich zumeist Beobachter daran, die mit den Demokraten sympathisieren, in Deutschland also um die 70 bis 90 Prozent.

Warum sind es 538 Wahlleute?

Die Zahl ist die Summe aus der Zahl der Volksvertreter in den beiden Kammern des Kongresses, dem Repräsentantenhaus (435) sowie dem Senat (100). Hinzu kommen drei Wahlleute aus dem Hauptstadtbezirk Washington DC, der nicht den Status eines Bundesstaats hat. Damit repräsentiert das Wahlleutegremium weitgehend das Bevölkerungsgewicht der einzelnen Bundesstaaten, freilich mit einer leichten Bevorteilung der bevölkerungsärmeren Staaten.

Wie viele Abgeordnete jeder der 50 Bundesstaaten hat, richtet sich direkt nach der Einwohnerzahl. Im Schnitt kommt ein Abgeordnetensitz auf etwa 750.000 Einwohner.

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Jeder Staat hat jedoch unabhängig von seiner Bevölkerung zwei Senatoren. So kommen bevölkerungsarme Staaten wie Wyoming, North und South Dakota auf drei Wahlleute, die Summe aus ihrem einen Abgeordneten und den zwei Senatoren. Der bevölkerungsreichste Staat, Kalifornien, mit seinen 39,5 Millionen hat 55 Wahlleute (53 Abgeordnete plus zwei Senatoren).

Dadurch ergibt sich eine Verschiebung, wie viele Einwohner ein Wahlmann vertritt, zu Gunsten der bevölkerungsärmsten und zu Lasten der bevölkerungsreichsten Staaten. Im Schnitt – 538 Wahlleute auf eine US-Bevölkerung von 328 Millionen Bürgern – sind es 609.665 Menschen. Die beiden Extremfälle weichen vom Mittelwert ab: In Kalifornien sind es 718.000, in Wyoming 193.000. In der großen Mehrzahl der US-Staaten aber liegt die Zahl nahe am Durchschnittswert.

Verzerrung gibt es auch in Deutschland

Das Prinzip, das der leichten Verzerrung zugrundeliegt, kennen freilich auch Deutschland und Europa. Die erste Parlamentskammer repräsentiert die Einwohnerzahl, die zweite die Regionen eines Landes ohne direkte Proportionalität zu ihrer Bevölkerungsgröße.

Im deutschen Bundesrat, der dem US-Senat entspricht, hat Bremen mit 683.000 Einwohnern drei Sitze. Nordrhein-Westfalen mit 17,9 Millionen Einwohnern sechs Sitze. Die Abweichung von der Proportionalität ist also viel krasser als im amerikanischen Wahlmännergremium.

Das gilt auch für die Wahl zum Europäischen Parlament. Die Abgeordnetenzahl für Deutschland, das bevölkerungsreichste Mitglied der EU, ist bei 100 gedeckelt. Ein Abgeordneter kommt auf 830.000 Bürger.

Die kleinsten EU-Staaten wie Luxemburg (614.000 Einwohner) und Malta (514.500 Einwohner) haben je sechs Europaabgeordnete. Auch hier ist der Verzerrungsfaktor deutlich größer als im US-System. Warum betrachten viele das im einen Fall als undemokratisch? Und im anderen Fall überhaupt nicht als ein Problem?

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