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Daumen hoch: Angesichts des Erfolgs im Senat kann Präsident Joe Biden der Kongresswahl ruhiger entgegensehen.

© Manuel Balce Ceneta/AP/dpa

Ein Sieg, den Joe Biden bitter nötig hat: Triumph der Bescheidenheit im US-Kongress

Drei Monate vor der Wahl gelingt den US-Demokraten ein drastisch abgespecktes Gesetzpaket zur Klima-, Energie-, Sozial und Steuerpolitik. Eine Analyse.

Schokolade, Beef-Jerky, Unmengen von Nüsschen: In Erwartung einer Marathonsitzung die ganze Nacht hindurch hatten sich die hundert Mitglieder des US-Senats mit ihren Lieblings-Snacks eingedeckt, um durchzuhalten. Nach 19 Stunden jubelten die Demokraten.

Die Republikaner warnten hingegen vor einem Wirtschaftseinbruch: Mit 50 zu 50 Stimmen entlang der Parteilinien plus der bei einem Patt entscheidenden Stimme der Vizepräsidentin Kamala Harris beschloss der Senat ein historisches Paket.

Der Titel „Gesetz zur Reduzierung der Inflation“ ist irreführend. Tatsächlich geht es um neue Wege in der Energie- und Klimapolitik, um die Entlastung älterer Bürger bei den Gesundheitskosten und höhere Steuern für Unternehmen.

Noch in dieser Woche soll das Repräsentantenhaus zustimmen. Dort haben die Demokraten eine klare Mehrheit. Dann kann Präsident Joe Biden den „Inflation Reduction Act“ mit seiner Unterschrift in Kraft setzen und drei Monate vor der Kongresswahl einen großen Erfolg verbuchen.

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Statt "Build Back Better" nach Corona ein Paket gegen Inflation

Den brauchen die Demokraten auch angesichts der schlechten Umfragewerte. Die haben viel mit der Wut über stark gestiegene Preise für Energie und Konsum zu tun – daher der kreative Name für das Gesetz.

Seine Inhalte sind widersprüchlich. Die Veränderungen am ursprünglichen Entwurf im Verlauf von anderthalb Jahren parlamentarischer Bearbeitung sind darüber hinaus ein Lehrstück, wie innenpolitische Dynamiken und eskalierende Konflikte in der Welt die Vorzeigeprojekte einer Regierungspartei aus der Bahn werfen können.

Ursprünglich hatten Biden und der progressive Flügel der Demokraten ein „Build Back Better“-Programm geplant, um die USA aus der Corona-Rezession zu führen: ein Umverteilungsprogramm zwischen Wirtschaft, Staat und Gesellschaft im Wert von zwei Billionen, also 2000 Milliarden Dollar.

Es wurde mit historischen Errungenschaften wie der Einführung der Krankenversicherung und einer Basis-Altersversorgung verglichen. Es zielte auf viele Lebens- und Wirtschaftsbereiche: von der kostenlosen staatlichen Kleinkindbetreuung, bezahlten Krankentagen und bezahlter Zeit zur Familienbetreuung über die Energie- und Klimapolitik bis zur Neuverteilung der Gesundheitskosten und höheren Steuern für Unternehmen.

Abspecken von 2000 auf 370 Milliarden Dollar

Die demokratische Mehrheit im Repräsentantenhaus hatte das ehrgeizige Mammutprojekt 2021 verabschiedet. Doch im Senat hatte es keine Chance wegen prinzipieller Blockadedrohungen der Republikaner und innerparteilichen Widerstands konservativer Demokraten.

Hinzu kamen fallende Umfragewerte des Präsidenten und die Folgen des Kriegs in der Ukraine für die Portemonnaies der Bürger. Das Vorhaben wurde radikal abgespeckt. Nun lautet das Preisschild 370 Milliarden Dollar.

Er diktierte seiner Partei die Bedingungen: Senator Joe Manchin aus West Virginia.
Er diktierte seiner Partei die Bedingungen: Senator Joe Manchin aus West Virginia.

© Ken Cedeno/REUTERS

Was herauskam, ist im Wesentlichen ein Kompromiss zwischen dem Mehrheitsführer der Demokraten im Senat, Chuck Schumer, und zwei bremsenden Parteikollegen, die die Stimmung ihrer Wähler im Blick haben. Erstens Senator Joe Manchin aus dem Kohlestaat West Virginia.

Manchin stand zwischenzeitlich im Verdacht, er wolle zu den Republikanern überlaufen und die Mehrheit im Senat kippen. Er setzte sich für fossile Energien und Pipelines ein, eine davon in West Virginia. Zweitens Senatorin Kyrsten Sinema aus dem Swing State Arizona; sie drängte darauf, Kosten und Steuern für Unternehmen zu begrenzen.

Emissionen sollen bis 2030 um 40 Prozent gegenüber 2005 sinken

Das Ergebnis sind teils Kompromisse, teils ein Sowohl-als-auch bei konkurrierenden Interessen. Dank einer für die USA beachtlichen Anstrengung bei der Förderung erneuerbarer Energien sowie der Investitionen in energiesparende Techniken sollen die Emissionen bis 2030 um 40 Prozent gegenüber dem dort üblichen Vergleichsjahr 2005 sinken.

Mehr zum Ukraine-Krieg und seinen Folgen bei Tagesspiegel Plus:

Fossile Energieträger werden ebenfalls unterstützt durch die Genehmigung neuer Bohrungen nach Öl und Gas im Golf von Mexiko und vor der Küste von Alaska. Der Mix soll helfen, die Preise zu senken. Die Prämie von 7500 Dollar für den Kauf eines E-Autos wird bis 2032 verlängert.

Bei den Gesundheitskosten werden vor allem ältere Bürgerinnen und Bürger entlastet. Sie leiden unter den nach europäischen Maßstäben sehr hohen Zuzahlungen für verschreibungspflichtige Arzneimittel. Diese Zuzahlungen werden auf 2000 Dollar pro Jahr begrenzt.

Für große Gesundheitsversorger wie die Medicare- Verwaltung werden zudem Wege geöffnet, Preisrabatte mit den Pharmakonzernen auszuhandeln. Ein Kernstück des Urplans, die Deckelung des Insulinpreises, um Diabetikern zu helfen, fiel heraus. Ebenso die Betreuung von Kleinkindern und mehr bezahlte Krankentage. Selbstverantwortung statt staatlicher Hilfe bleibt die Devise im Alltagsmanagement amerikanischer Familien.

Höhere Steuern für Unternehmen und auf Aktien-Rückkäufe

Um die Ausgabenseite des Gesetzespakets zu finanzieren, werden teils Mindeststeuern, teils höhere Steuern für Branchen eingeführt, die für Steuervermeidung bekannt sind. Auf den Rückkauf von Aktien des eigenen Unternehmens müssen Aktiengesellschaften künftig ein Prozent Steuer zahlen.

In der langen Debattennacht hatten die Republikaner versucht, die Einheit der Demokraten mit Änderungsanträgen zu sprengen. Doch auf deren Seite hielten sich auch jene, die von der abgespeckten Version enttäuscht waren, an die Devise: lieber dieses Gesetz als gar kein Gesetz. Wer weiß schon, ob die Demokraten nach der Kongresswahl im November überhaupt noch eine gesetzgeberische Mehrheit haben werden.

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