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"Willkürliche Zerstörung" durch die massenhafte Entlassung von Akademikern beklagen diese Demonstrantinnen in Ankara - und fordern "Ausbildungssicherheit".

© Umit Bektas/rtr

Ein Jahr nach dem Putsch: Die Flucht der türkischen Fachkräfte

Seit dem Putschversuch vor einem Jahr erleidet die Türkei einen „Braindrain“: Viele Intellektuelle und Führungskräfte verlassen das gespaltene Land.

In der neuen Türkei ist kein Platz mehr für sie. Nächsten Monat schon ist sie weg. So wie vielleicht Tausend andere vor ihr. Diese Woche inszenieren der türkische Staatschef und seine Regierung den ersten Jahrestag des Putschs. Doch Sema Palay schaut längst keine Nachrichten mehr. „Es macht mich zu wütend“, sagt die 27-jährige Frau. In Kalifornien wird ihr neues Leben beginnen.

Die Flucht der Akademiker, der jungen Manager, des liberal gesinnten Teils der türkischen Gesellschaft ist eine der gravierenden Folgen jener Putschnacht vom 15. Juli 2016, die doch den ersten Sieg der Türken über ihre Armee markieren sollte, die Festigung der Demokratie. 249 Menschen kamen am 15. Juli um – von Panzern überrollt, erschossen, aus der Luft bombardiert. Im Handumdrehen wurde daraus ein „Geschenk Gottes“, wie Recep Tayyip Erdogan diesen Staatsstreich am Tag danach nennt. Der Präsident verhängt den Ausnahmezustand und regiert seither per Dekret.

Seine Anhänger strömen nun abends wieder auf die Plätze der Großstädte – wie damals, vor einem Jahr. Sie halten „Demokratiewache“, sie nehmen die Sache selbst in die Hand, so glauben sie zumindest. Sie rufen nach der Todesstrafe. Das Heer der Feinde sei gewachsen, wird ihnen gesagt. Endlos sei die Zahl der Verschwörer im Innern, infam der Verrat des Auslands, das Putschisten und Terroristen beschütze. Mehr als 50.000 sitzen im Gefängnis, jeden Tag kommen neue dazu.

Völkerrecht und Pressefreiheit - die Kombination bedeutet das sichere berufliche Aus

Während die Konservativ-Religiösen auf der Straße Erdogans autoritäres Regime bewachen, wandern die anderen aus. Man hört es beim Abendessen mit türkischen Freunden, man merkt es an den E-Mails von Bekannten, die plötzlich aus anderen Ländern kommen.

Sema Palay, die junge Juristin, hat ein Stipendium erhalten. Sie wird ihre Doktorarbeit an einer Universität in Kalifornien zu Ende schreiben und dann dort weiterarbeiten. Humanitäres Völkerrecht und Pressefreiheit ist ihr Gebiet – derzeit eine Garantie für den akademischen Tod. „Ich kann praktisch nichts mehr publizieren. Nicht einmal in einem juristischen Fachmagazin“, sagt sie. Zwei von Sema Palays Professoren an der Istanbuler Galatasaray-Universität sind nach dem Putsch entlassen worden. Niemand traut sich, die beiden anzustellen. Palay will sich nicht verbiegen, deshalb muss sie nun weg. Palay übrigens heißt nicht Palay, sie möchte unerkannt bleiben – es braucht nicht viel, um heute in der Türkei festgenommen zu werden.

An den Universitäten und Kliniken reißen Entlassungen Lücken

Noch ist der „Braindrain“ seit dem Putsch, die Abwanderung der Intellektuellen und der Führungskräfte aus Erdogans Türkei, etwas Anekdotenhaftes ohne gesicherte Statistik. Dass die Massenentlassungen angeblicher Verschwörer und Terrorunterstützer an den Universitäten und Kliniken eine Lücke gerissen haben müssen, ist gleichwohl klar. Durchschnittlich um 28 Prozent soll die Zahl der Veröffentlichungen türkischer Wissenschaftler in diesem Jahr zurückgegangen sein, so heißt es in einer Studie, die im Juni erschien.

In den Sozialwissenschaften und der Medizin sind die Ausschläge noch höher. Ein neues Nachrichtenportal mit dem Namen „Freedom for Academia“ hat die Studie verbreitet; man darf annehmen, dass es von Anhängern des Predigers Fethullah Gülen betrieben wird, ebenso wie „Turkey purge“ oder das „Stockholm Center for Freedom“, die beide den Fortgang der Massensäuberungen in der Türkei protokollieren.

Seinen ehemaligen politischen Verbündeten, den nach wie vor im US-Exil lebenden Gülen, hat Erdogan zwar zum Erzfeind erklärt. Dass der rätselhafte, 76-jährige Prediger aber den Putsch organisiert haben soll, bezweifeln westliche Geheimdienste, darunter der BND. Die US-Regierung macht auch keine Anstalten, Gülen auszuliefern.

Die Beweise für die Verantwortung der „Terrororganisation der Fethullah-Anhänger“ (Fetö) sind offensichtlich so dünn, die Ungereimtheiten dieses vereitelten Staatsstreichs so groß, dass selbst der türkische Justizminister nun zugibt: „Ich habe nie gedacht, dass Fetö allein agiert hat.“ Andere „Elemente“ in der türkischen Armee hätten bei dem Putsch mitgemacht. Genau 8651 Soldaten sollen es gewesen sein, nur eineinhalb Prozent der Armee, aber zwei Drittel ihrer Generäle. Der Armeechef will nichts von den Vorbereitungen mitbekommen haben. Der Geheimdienstchef wusste etwas, informierte aber nicht die Regierung. Beide sind weiter im Amt.

„Es gibt ein Verlangen nach dem Faschismus.“

Auf der asiatischen Seite der Bosporus-Brücke in Istanbul, die nun „Brücke der Märtyrer des 15. Juli“ heißt, steht ein Denkmal, gerade rechtzeitig fertig geworden für die Gedenkfeiern in dieser Woche. 24Stunden lang, von Freitag bis Samstag, werden vor dem weißen Kubus von Erdogans neo-osmanischen Hofarchitekten Hilmi-Senalp-Gebete gelesen.

Die Namen der 249 Opfer des Putschs sind dort eingraviert. Ihr Tod ebnete Erdogan den Weg zur Alleinherrschaft, bestätigt durch ein Verfassungsreferendum im April. Cengiz Aktar, Gründer des Instituts für Europapolitik an der Bahçesehir-Universität, der heute auch keine Lehrstelle mehr hat, fällt ein hartes Urteil über die Türkei seit dem Putsch: „Es gibt ein Verlangen nach dem Faschismus. In diesem Zustand lebt das Land jetzt.“

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