zum Hauptinhalt
In Trümmern: Die Brüder Musabeh würden gerne die Überreste ihres Hauses verlassen. Aber dafür fehlt ihnen das Geld.

© Lissy Kaufmann

Ein Jahr nach dem Gazakrieg: Vom Leben zermürbt

Ohne Arbeit, ohne Obdach, ohne Hoffnung: Ein Jahr nach dem Krieg zwischen Israel und der Hamas fühlen sich die Menschen in Gaza im Stich gelassen. Ein Besuch in Beit Hanun.

Ein wenig blassgrünes Gras ist über die Schuttberge vor dem Haus der Familie Qassem gewachsen. Viel mehr hat sich nicht getan. Seit Monaten blicken die Schwestern Hamdia (26) und Feryal Qassem (49) von ihrem kleinen Lebensmittelladen am Stadtrand von Beit Hanun aus auf den staubigen Stillstand. Sie sehen erschöpft aus, als ob sie mit ihren Gedanken woanders wären.

Und wer will schon hier sein, in Beit Hanun im Gazastreifen. Zwischen zerbombten Häuser, die kein Dach mehr haben und keine Wände, dafür eingestürzte Zimmerdecken. Die Schwestern haben viel Zeit, auf die Ruinen zu starren, während sie auf Plastikstühlen hinter dem Kassentisch sitzen und auf Kunden warten. Das Geschäft geht nicht mehr so gut. Einige Familien aus der Nachbarschaft sind bei Verwandten in weniger kaputten Dörfern geblieben.

50 Tage dauerten die Kämpfe

Die Rückkehrer haben Folien aufgehängt, wo vorher Wände waren. Bunte Kinderkleidung und Bettlaken flattern zwischen den Trümmern im Wind auf einer Wäscheleine. Die Menschen wohnen wieder hier, aber leben sie auch? Wenn es noch mal einen Krieg gibt, sagt Hamdia Qassem, möchten sie lieber sofort sterben. Das Leben sei sinnlos geworden.

Genau vor einem Jahr, am 8. Juli, begann der jüngste Gaza-Krieg. Mehr als 2200 Palästinenser starben damals, darunter 1400 Zivilisten. Auf israelischer Seite kamen mehr als 70 Menschen ums Leben, sechs davon Zivilisten. Während der 50-tägigen Kämpfe zwischen der Hamas und Israel flogen vom Gazastreifen aus zig Raketen auf den jüdischen Staat, israelische Bomben explodierten im Küstenstreifen.

Während das israelische Abwehrsystem Iron Dome die feindlichen Geschosse größtenteils in der Luft abfangen konnte, war der Schaden in Gaza immens – und ist es bis heute geblieben. Zwar haben westliche und arabische Staaten bei einer Geberkonferenz in Kairo im Oktober 2014 rund 5,4 Milliarden Dollar für den Wiederaufbau zugesagt. Davon angekommen ist bis heute aber nur ein Bruchteil. Viele bekannte Politiker waren hier, machten sich ein Bild von den Lebensbedingungen – und waren schockiert. Sagten, es müsse sich etwas ändern. Dann verschwanden sie wieder. Geblieben sind die Hoffnungslosigkeit und das Gefühl, vergessen worden zu sein.

Und so steckt hinter jeder Plastikplane und unter jedem Wellblechdach eine Geschichte wie die der Qassems, die sogar Glück hatten. Anfang Januar bekamen sie endlich die Zusage für 1600 Dollar und ein paar Sack Zement. So konnten sie die einzige Einnahmequelle der elfköpfigen Familie, den Lebensmittelladen, wiederaufbauen: ein Raum im Erdgeschoss mit wenigen Regalen, darin Konservendosen mit Oliven und Gurken, Päckchen mit Reis, getrockneten Bohnen und Süßigkeiten, im Kühlschrank ein paar Getränkedosen.

"Der ganze Laden war zerstört, die Tür weg. Wir haben Unterstützung beantragt, damit wir wieder etwas Geld verdienen können", sagt Hamdia. Nun hat das Geschäft wieder eine Wand und eine braunfarbene Metalltür, die sich nach Feierabend gegen zehn Uhr verschließen lässt. Der Rest des Hauses ist weiterhin von Löchern übersät.

Rund 120.000 Menschen in Gaza haben kein richtiges Dach mehr über dem Kopf. Um die Häuser wiederaufzubauen, bräuchten sie 5000 Tonnen Zement am Tag, sagt Nabil Abu Muaileq, Chef der Bauunternehmer-Union in Gaza. "Hinzu kommen weitere 5000 Tonnen pro Tag für Neubauprojekte, weil die Familien wachsen und mehr Wohnraum benötigen. Wir haben in den vergangenen zehn Monaten aber gerade mal 100.000 Tonnen bekommen. Zudem sind wegen der hohen Nachfrage die Preise vier- bis fünfmal höher als anderswo", erklärt er. "Die Israelis verzögern unser Leben hier."

Die Menschen halten Israel für einen Besatzer

Die Israelis haben im vergangenen Sommer allerdings auch einige der 4500 aus dem Gazastreifen abgefeuerten Raketen abbekommen. Rund 30 Tunnel, die die Islamisten bis nach Israel gegraben hatten, wurden entdeckt und zerstört. Die Angst ist dementsprechend groß, dass die Baumaterialien zu Terrorzwecken missbraucht werden. Und Yahia Mousa al Abadsa, einer der politischen Führer der Hamas, schließt das auch nicht aus. "Klar rüsten wir uns für die nächste Runde. Wie andere Länder eben auch, so sind wir bereit für Angriffe auf unser Land."

Israel betont zwar immer, sich 2005 aus dem Gazastreifen zurückgezogen zu haben. Aber die Menschen in Gaza sind überzeugt: Wer den Luft- und Seeraum sowie die Landesgrenzen kontrolliert, der ist auch Besatzer.

Die Hamas hat im Gazastreifen weiterhin das Sagen.
Die Hamas hat im Gazastreifen weiterhin das Sagen.

© Ahmad Gharbalil/ AFP

Dennoch: Täglich passieren rund 600 Lastwagen den Übergang Kerem Shalom von Israel nach Gaza, beladen mit Hilfsgütern und Baumaterialien. Die israelische NGO Gisha hat errechnet, dass zwischen dem Kriegsende im August 2014 und Februar 2015 insgesamt 462.926 Tonnen Baumaterialien in den Gazastreifen gelangten, allerdings hätten nur 15 Prozent davon den strengen Kontrollmechanismus durchlaufen, wie beispielsweise die Baumaterialien der Qassems: Erst, wenn Israel, die Autonomiebehörde und die UN einer Liste mit den Namen der Hilfebedürftigen zugestimmt haben, werden Baumaterialien geliefert.

Der Rest ging laut Gisha an internationale Organisationen und von Katar finanzierte Projekte. So hat die Unterstützung für die Qassems nur dazu gereicht, dass der Laden halbwegs instandgesetzt werden konnte. Ein Stockwerk weiter oben schließt Stiefmutter Rajaa die Tür zum Schlafzimmer auf. Seit das Haus praktisch offen steht, fensterlos und durchlöchert, haben die Qassems Angst vor Diebstahl.

Hilfe von der Hamas? Fehlanzeige

Das Schlafzimmer ist dunkel, die Löcher in der Wand haben sie mit Metall- und Holzplatten verriegelt. Weil es den Winter über durch die Decke geregnet hat, hat der Schimmel die Wände schwarz gefärbt. Die Einschusslöcher an der Wand, die Rajaa jeden Morgen nach dem Aufwachen vor sich sieht, halten die Erinnerung wach. "Die Angst ist immer noch da. Wir sind nur wenige Kilometer von der Grenze entfernt. Es gibt Momente, da denken wir nicht mehr dran.

Doch dann, nur ein lautes Geräusch, und wir schrecken sofort wieder auf." Noch mal wollen sie das nicht mitmachen, sagt Hamdia. Nicht noch mal mit 40 Verwandten nächtelang in zwei kleinen Zimmern zusammenhocken. Nicht wissend, wo die nächste Bombe einschlägt. Nicht noch mal panisch nachts auf die Straße rennen, bis Helfer sie finden und in eine Flüchtlingsunterkunft bringen.

Das zweite Stockwerk gibt es seit dem Krieg nicht mehr. Ebenso die Wand, die einstmals Küche und Toilette trennte. Quer durch das Haus sind Stromkabel gespannt, die die zerstörten Leitungen in den Wänden ersetzen. "Lebensgefährlich", sagt Rajaa. Die Alternative wäre Dunkelheit. Hilfe von der Hamas? Die Frauen schütteln den Kopf. Viele Menschen in Gaza sind enttäuscht.

Die Einteilung, wer von wem Hilfe bekommt, wirkt zynisch. Das Hilfswerk der UN für palästinensische Flüchtlinge (UNRWA) ist nur für all jene zuständig, die nach der Staatsgründung Israels 1948 ihre Häuser verlassen mussten und in das Gebiet des heutigen Gazastreifens gezogen sind. Auch wenn sie heute dort in Wohnungen in Gaza-Stadt oder in Häusern in Beit Hanun leben wie die Qassems, gelten sie als Flüchtlinge und können Hilfe bei UNRWA beantragen.

Zu müde für eine nächste Runde?

Die Brüder Nemer, 33, und Saqer Musabeh, 30, hingegen, deren Urgroßeltern bereits hier gelebt haben, können höchstens auf die Hilfe der Regierung hoffen. Bisher ist bei ihnen aber nichts angekommen. Obwohl ihr Haus in Shejaiya praktisch nicht mehr existiert und sie ihr Schlafzimmer nur erreichen, wenn sie an der eingestürzten Zimmerdecke entlanglaufen. Möglichst nah an der Wand entlang, um nicht ins Erdgeschoss abzustürzen.

Wenn er Geld hätte, würde er ausziehen, sagt Nemer. "Aber die Näherei, in der ich gearbeitet habe, existiert nicht mehr, ich habe keine Arbeit." Er steht auf der halb eingebrochenen Zimmerdecke. "Meine 17-jährige Schwester ist hier hinabgestürzt und hat sich alle Knochen gebrochen. Sie liegt noch immer in einem Krankenhaus in Israel", erzählt er. "Und mein Vater, der das Haus aufgebaut hat, ist an einem Herzinfarkt gestorben, als er das hier gesehen hat", sagt Nemer.

Gaza 2015: Während über Geld und Zement debattiert wird, zermürbt der Alltag die Menschen. Sie sind vom Leben erschöpft. Zu müde für die nächste Runde? Vielleicht. Doch wer kann schon genau sagen, zu was Menschen bereit sind, die kaum noch etwas zu verlieren haben.

Zur Startseite