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Seelenlandschaft für Städter. Parkdeck in einer Hochhaussiedlung im Norden von Berlin.

© imago images/CHROMORANGE

Ein „Ghetto" entsteht nicht durch Niedrigeinkommen: Hört auf, die Armen aus der Innenstadt zu drängen!

Die Vertreibung aus der Mitte: Führt sozialer Wohnungsbau zur Ghettobildung? Die Lage ist sehr viel komplizierter. Ein Gastbeitrag.

Matthias Bernt ist Stadtforscher und leitet kommissarisch die Abteilung „Regenerierung von Städten“ am Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung (IRS) in Erkner.

Vor wenigen Tagen forderte der Berliner CDU-Abgeordnete Christian Gräff für Bezirke wie Marzahn-Hellersdorf einen Baustopp für preisgebundene Wohnungen, da diese durch den massiven Bau von Sozialwohnungen „sozial zu verslumen“ drohten. Ist dieser Befund richtig? Die Stadtforschung hat sich seit Jahrzehnten mit dem Thema beschäftigt.

Die Forschungsergebnisse zeigen klar, dass sowohl die Diagnose als auch die vorgeschlagene Therapie einem Faktencheck nicht standhalten. Erstens zeigen aktuelle Studien zur sozialräumlichen Segregation in deutschen Städten Konzentrationen von Armutshaushalten vor allem in ostdeutschen Plattenbauvierteln. Dort gibt es allerdings kaum Neubau und erst recht keine neuen Sozialwohnungen.

Die größte Konzentration von Niedrigeinkommen finden sich vielmehr in solchen Beständen, die in den 1990er und 2000er Jahren privatisiert wurden und jetzt von Unternehmen wie Vonovia, AD Properties oder Deutsche Wohnen verwaltet werden. Die Gründe hierfür liegen vor allem im Wachstum des Niedriglohnsektors und in der Verdrängung von Menschen mit niedrigen Einkommen aus den Innenstädten. Nicht der Neubau von Sozialwohnungen treibt also die Entmischung voran, sondern der Mangel an bezahlbarem Wohnraum.

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Irreführende Begriffe

Zweitens ist die Gleichsetzung von Konzentrationen unterer Einkommensschichten mit sozialer Desorganisation, Krise und Kriminalität, die sowohl im „Ghetto“- als auch im „Slum“-Begriff mitschwingt, irreführend. Das wesentliche Merkmal eines Ghettos ist seine Funktion als Ort der sozialen Isolation einer stigmatisierten Gruppe. Ein Ghetto hat die Aufgabe, diese Gruppe von der Mehrheitsgesellschaft fern zu halten. Slums sind Orte baulichen und sozialen Verfalls.

Die Bewohner von Marzahn, der Heerstraße oder des Kottbusser Tors sind hingegen Teil einer diverser werdenden Mehrheitsgesellschaft. Sie sind zwar öfter als im Durchschnitt arm, aber eben auch auf vielfache Weise in die Stadtgesellschaft eingebunden, etwa wenn sie in Prenzlauer Berg Kitakinder betreuen, in Charlottenburg Rechtsanwaltsbüros putzen oder in Kreuzberg feiern gehen. Dass Sozialmieter sich keine Wohnung woanders leisten können, macht ihre Wohnorte noch lange nicht zu Ghettos.

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Hier werden Vorstellungen transportiert, die wenig mit den Realitäten moderner Gesellschaften zu tun haben. In der Regel stellen sie auf Nachbarschaftseffekte ab, also auf die Idee, dass die Bewohner von Quartieren mit sozialen Problemlagen konzentriert auftreten, sich gegenseitig nach unten ziehen. Obwohl Nachbarschaftseffekte in der empirischen Forschung vielfach getestet wurden, konnten sie bislang nicht nachgewiesen werden.

Henne oder Ei?

Es ist nämlich unklar, ob Merkmale wie Arbeitslosigkeit, Kriminalität oder abweichendes Sozialverhalten zunehmen, wenn viele davon Betroffene an einem Ort wohnen, oder ob diese Individuen an diesem Ort wohnen (müssen), weil sie die entsprechenden Merkmale aufweisen. Auch findet Sozialisation im Kontakt mit vielen Institutionen statt (Schule, Familie, Nachbarschaft, Medien), so dass der Einfluss einzelner Treiber nicht isoliert werden kann.

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Dass es also gerade die räumliche Nähe zu anderen Armen sein soll, die Arme zusätzlich benachteiligt, ist nicht belegt. Jüngere Forschungen zu städtischen „Ankunftsquartieren“ weisen eher auf das Gegenteil hin: In bestimmten Konstellationen kann gerade die Nachbarschaft benachteiligter Haushalte Ressourcen schaffen, die helfen, mit Armut und Diskriminierung umzugehen.

Statt den sozialen Wohnungsbau zu stigmatisieren, wäre die Politik gut beraten, wirksamere Instrumente gegen die Verdrängung von Armen aus der Innenstadt zu entwickeln, und zu überlegen, wie Neubau besser mit der Entwicklung von sozialer und technischer Infrastruktur verbunden werden kann. An beiden Stellen gibt es gerade in Berlin viel zu tun. Ein „Ghetto“-Diskurs hilft da nicht.

Matthias Bernt

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