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Der ehemalige SS-Wachmann Bruno D. im Landgericht Hamburg.

© dpa/Fabian Bimmer/REUTERS

Ehemaliger SS-Wachmann verurteilt: „Ein Gehilfe der menschengemachten Hölle“

Im vielleicht letzten NS-Prozess wird der Angeklagte Bruno D. zu zwei Jahren auf Bewährung verurteilt. Am Ende ging es auch um das Versagen der deutschen Justiz.

Der Angeklagte muss sich nicht erheben, als das Urteil verkündet wird. Denn der Mann, der sich vor dem Hamburger Landgericht verantworten muss, ist bereits 93 Jahre alt. Die Tat, die ihm vorgeworfen wird, ereignete sich zwischen August 1944 und April 1945. Bruno D. gehörte zum Wachpersonal des nationalsozialistischen Konzentrationslagers Stutthof.

Weil er damals erst 18 Jahre alt war, musste nun eine Jugendstrafkammer über einen Greis urteilen. Das Gericht sprach ihn der Beihilfe zum Mord in 5232 Fällen sowie des versuchten Mordes in einem Fall schuldig. Ins Gefängnis muss der betagte ehemalige SS-Mann allerdings nicht mehr. Die Kammer verhängte eine Jugendstrafe von zwei Jahren, die zur Bewährung ausgesetzt wird.

Das Verfahren sei rechtlich und menschlich schwierig gewesen, sagte die Vorsitzende Richterin Anne Meier-Göring in ihrer Urteilsbegründung. „Wir haben uns mit einer Zeit beschäftigt, die wir nicht verstehen können, auch wenn man es noch so sehr versucht.“

In diesem Prozess sei es darum gegangen, zu welchen Verbrechen gegen die Menschlichkeit Menschen in der Lage seien und was jemanden dazu bringe, anderen solche Verbrechen anzutun oder dabei mitzumachen. „Ganz normale Menschen“ wie der Angeklagte Bruno D. hätten an diesen Taten mitgewirkt.

Die Richterin nutzte die Gelegenheit auch für eine Mahnung, die sich auf Rechtsextremismus und Rassismus in der heutigen Zeit bezieht: „Wehret den Anfängen, wenn Menschen ausgegrenzt und ihrer Werte beraubt werden“, sagte Meier-Göring in einer leidenschaftlich vorgetragenen Urteilsbegründung. „Achtet die Würde des Menschen um jeden Preis – und auch dann, wenn der Preis die eigene Sicherheit ist.“

Das Gericht musste über die Mitverantwortung eines Einzelnen für ein Verbrechen entscheiden, dessen ganze Ausmaße bis heute unfassbar erscheinen. In Stutthof wurden mindestens 65.000 Menschen getötet – sie wurden in der Gaskammer ermordet, erschossen oder starben an Hunger und Krankheiten, an den Bedingungen im Lager, die nicht für das Überleben angelegt waren.

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Als 17-Jähriger erhielt Bruno D., der im Umland von Danzig aufgewachsen war, die Einberufung zum Militärdienst. Weil er von einem alten Herzfehler berichtete, entging er dem Einsatz an der Front. Stattdessen wurde er zum Wachdienst in Stutthof abkommandiert und später in den Totenkopfsturmbann der SS versetzt. Als 18-Jähriger stand er auf seinem Wachturm und sah von dort aus Tag für Tag die Toten im Lager, blickte hinunter auf die ausgemergelten, völlig entkräfteten Körper.

War er nur ein kleines Rädchen, wie er selbst es sieht?

Kann ein Mensch das mitansehen und dabei unbeteiligt, ja unschuldig bleiben? War er nur ein kleines Rädchen, wie er selbst es sieht? „Was konnte ein 17-Jähriger, der dazu gezwungen wurde, dort Wache zu stehen, was konnte der unternehmen dagegen?“, fragte Bruno D. den Staatsanwalt in einer der vielen Vernehmungen vor dem Prozess. Doch die Staatsanwaltschaft hielt ihm entgegen, dass er ein „Rädchen in einer Mordmaschinerie“ war.

Das will die Vorsitzende Richterin allerdings so nicht stehen lassen. „Nein, der Angeklagte war kein Rädchen, sondern ein Mensch.“ Die Metapher vom Rädchen entpersonalisiere und schaffe Distanz, warnte Meier-Göring. Und Stutthof sei keine Tötungsmaschinerie gewesen, sondern dort habe ein von Menschen erdachter und umgesetzter Massenmord stattgefunden.

Im Saal des Strafgerichtsgebäudes in Hamburg ging es seit dem ersten Verhandlungstag im Oktober um die Frage, wie die individuelle Schuld eines Wachmanns an den Morden im Lager zu bewerten ist. Die Richterin hält dem Angeklagten vor, er habe seine Schuld in dieser ganzen Zeit nicht wahrhaben wollen. Bruno D. sehe sich noch immer nur als „Beobachter“, kritisierte die Richterin. „Dabei waren Sie ein Gehilfe dieser menschengemachten Hölle.“

Der Angeklagte habe sich zwar am Ende des Verfahrens bei den Nebenklägern, den am Verfahren beteiligten Angehörigen der Opfer, entschuldigt. Doch es sei nicht klar geworden, wofür.

Bruno D. und sein Verteidiger hatten im Verfahren argumentiert, er habe keinen Ausweg gesehen, um dem Wachdienst in Stutthof zu entgehen. „Ich hätt‘ nur mir selber geschadet“, gab Bruno D. in einer Vernehmung zu Protokoll.

Das ehemalige Konzentrationslager Stutthof in der Nähe von Danzig.
Das ehemalige Konzentrationslager Stutthof in der Nähe von Danzig.

© imago/newspix

Zugleich verwies die Verteidigung auf das damalige System von Befehl und Gehorsam. Doch das wollen die Richter nicht gelten lassen – Meier-Göring wirft Bruno D. vor, dass er dem Wachdienst in Stutthof gar nicht entgehen wollte. Für ihn sei Stutthof keine Hölle gewesen, sondern „Arbeitsalltag“, den er dem eigenen Leiden an der Front vorzog.

Der Richterin ist die eigene Fassungslosigkeit anzumerken

Die Richterin erinnert auch an die Aussage des Angeklagten, er habe an der Eintönigkeit in Stutthof gelitten und seine Familie vermisst. „Deswegen weinten Sie manchmal, und nicht wegen des sich vor Ihren Augenabspielenden Massenmordes“, hält Meier-Göring ihm vor.

Gelegentlich ist der erfahrenen Richterin die eigene Fassungslosigkeit anzumerken. „Wie ist es möglich, dass Sie das Leid der Menschen zwar sahen, aber nicht darunter litten?“, fragte sie den Angeklagten direkt. „Wie konnten Sie sich bloß an das Grauen gewöhnen und es nach einiger Zeit nur noch eintönig finden?“

Auch die Rechtfertigung des Angeklagten, er habe Befehle befolgen müssen, wollen die Richter nicht akzeptieren. „Sie hätten in Stutthof nicht mitmachen dürfen.“ Er hätte zumindest versuchen müssen, sich dem grausamen Unrecht zu entziehen. Dass es für einen 18-Jährigen schwierig gewesen wäre, sich dem entgegenzustellen, berücksichtigte das Gericht allerdings strafmildernd.

Nebenklagevertreter hebt „historische Dimension“ des Urteils hervor

In einem Verfahren, das der letzte NS-Prozess in Deutschland sein könnte, ging es am Ende auch um das Versagen der deutschen Justiz. Die NS-Verbrechen seien entweder gar nicht oder nur höchst unvollständig verfolgt worden, kritisierte Meier-Göring. Damit habe sich Deutschland gegenüber den Opfern des Holocaust noch einmal schuldig gemacht.

Mit dem Urteil geht die Kammer nun ganzbewusst einen Schritt weiter als die bisherige Rechtsprechung. Die Richter sehen das Lager Stutthof als einen Ort des Massenmordes an, in dem die Lebensbedingungen so ausgelegt waren, dass die Häftlinge qualvoll starben. Es seien die im Verfahren aufgetretenen Nebenkläger gewesen, die das Gericht zu dieser Erkenntnis gebracht hätten, betonte Richterin Meier-Göring. Das Urteil und seine Begründung hätten eine „historische Dimension“, sagte der Nebenklagevertreter Cornelius Nestler.

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