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Demonstranten vor dem Supreme Court reagieren geschockt.

© Brendan SMIALOWSKI/AFP

Update

Durchgestochener Urteilsentwurf des Supreme Court: Kippt das Abtreibungsrecht in den USA?

Die konservative Mehrheit des Obersten Gerichts will offenbar das Recht auf Abtreibung kippen. Das geht aus einem ersten Entwurf für das Urteil hervor.

Es hat nicht lange gedauert, bis die tiefe Spaltung des Landes im Herzen von Washington sichtbar wurde. Nur wenige Stunden nach dem explosiven Bericht des US-Magazins „Politico“ versammelten sich am späten Montagabend Hunderte Demonstranten vor den Ehrfurcht gebietenden weißen Marmortreppen des Supreme Court. Viele zündeten Kerzen an, riefen Sprechchöre in die Nacht und hielten Schilder hoch – getrieben von der großen Sorge, dass das Recht auf Abtreibung in den Vereinigten Staaten schon bald abgeschafft werden könnte.

Aber auch eine kleinere Schar von Demonstranten war vor das Gerichtsgebäude hinter dem Kapitol gezogen. Sie waren gekommen, um den sich abzeichnenden Sieg ihrer Moralvorstellungen über die Mehrheitsmeinung in den USA zu feiern.

Worüber sich diese Abtreibungsgegner freuten, war zuvor auf spektakuläre Art und Weise öffentlich geworden. „Politico“ hatte unter Berufung auf ein auf den 10. Februar datiertes Dokument und weitere Recherchen berichtet, dass die konservative Mehrheit des Obersten Gerichts sich in der Abtreibungsfrage offenbar festgelegt habe.

Richter Alito bezeichnet „Roe v. Wade“ als „ungeheuerlich falsch“

Dem Magazin war ein erster Entwurf der Urteilsbegründung zugespielt worden, in dem der konservative Richter Samuel Alito das Grundsatzurteil „Roe v. Wade“, das das bundesweite Recht auf Abtreibung festschrieb, als „von Anfang an ungeheuerlich falsch“ bezeichnete. „Roe v. Wade“ solle, so schreibt Alito, zusammen mit einer weiteren Gerichtsentscheidung zum Schwangerschaftsabbruch („Planned Parenthood v. Casey“) aufgehoben und „die Frage der Abtreibung an die gewählten Volksvertreter zurückgegeben“ werden. Die Verfassung verbiete keine eigenen Regeln der einzelnen Bundesstaaten zu dieser „tief moralischen Frage“.

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Was das übersetzt bedeutet, ist nicht nur den nächtlichen Demonstranten vor dem Gericht klar: Würde das Urteil aus dem Jahr 1973 wegfallen, wäre der Weg für konservative Bundesstaaten endgültig frei, deutlich schärfere Regelungen bis hin zu Komplettverboten von Schwangerschaftsabbrüchen zu erlassen.

Die Folgen könnte eine massenhafte „Abtreibungs-Migration“ sein

Gleichzeitig blieben Eingriffe in liberalen Staaten erlaubt, was zu einer massenhaften „Abtreibungs-Migration“ führen könnte. Mädchen und Frauen aus konservativen Staaten, die aus welchen Gründen auch immer eine Abtreibung vornehmen wollen, müssten dann Hilfe in anderen Staaten suchen und dafür teilweise hunderte Kilometer Wegstrecke auf sich nehmen.

Nicht für jede von ihnen wird das eine Option sein. Daher sind die Befürchtungen groß, viele könnte sich dafür entscheiden, ihre Schwangerschaft selbst abzubrechen.

Hilfsorganisationen bereiten sich seit Monaten auf diese Situation vor. Planned Parenthood, das landesweit Abtreibungskliniken betreibt, bezeichnete den geleakten Entwurf als „empörend“. Die schlimmsten Befürchtungen würden wahr.

Amazon will Angestellten künftig Reisekosten für solche Eingriffe erstatten

Auch in der Wirtschaft wird die Brisanz des Themas erkannt: Der Onlinehändler Amazon erklärte, seinen Angestellten in den USA künftig die Reisekosten für Abtreibungen erstatten zu wollen. Eine Reihe von Unternehmen hatte als Reaktion auf drohende, lokale Verschärfungen des Abtreibungsrechts schon ähnliche Schritte angekündigt.

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Mit einem endgültigen Urteil wird in den kommenden zwei Monaten gerechnet. Wie fest die nun öffentlich gewordene Begründung steht, ist noch nicht sicher. Wahrscheinlich ist, dass das Dokument von einem Mitarbeiter des Gerichts geleakt wurde, um die Gegenseite zu mobilisieren.

Der Supreme Court bestätigte am Dienstag die Echtheit des Dokuments. Dies sei aber noch kein endgültiges Urteil, erklärte Chief Justice John Roberts in einer Mitteilung. Der Oberste Richter kündigte an, man werde eine Untersuchung starten, wer das Dokument durchgestoßen habe. Wenn dieser Vorgang dazu gedacht gewesen sei, das Vertrauen in das Gericht zu untergraben, werde er nicht erfolgreich sein. „Die Arbeit des Gerichts wird dadurch nicht beeinflusst.“

Mehrheit der Amerikaner will Abtreibungen erhalten

Die Mehrheit der Amerikaner ist dagegen, Abtreibungen zu verbieten. Einer aktuellen Umfrage der „Washington Post“ und des Senders ABC zufolge sprechen sich 54 Prozent der Befragten dafür aus, an „Roe v. Wade“ festzuhalten. 28 Prozent wollen es kippen. Diese Frage könnte damit zu einem zentralen Thema bei den im November anstehenden Kongress-Zwischenwahlen werden.

Experten hatten schon länger damit gerechnet, dass die unter Ex-Präsident Donald Trump auf sechs zu drei Richter ausgebaute konservative Mehrheit „Roe v. Wade“ aushöhlen oder gar komplett kippen könnte. „Politico“ berichtete, dass Clarence Thomas, Neil Gorsuch, Brett Kavanaugh und Amy Coney Barrett mit Alito stimmen wollten.

Rund die Hälfte der Bundesstaaten könnten rasch weitgehende Abtreibungsverbote einführen

Die drei liberalen Verfassungsrichter Stephen Breyer, Elana Kagan and Sonia Sotomayor arbeiteten an einer abweichenden Meinung. Wie der Oberste Richter Roberts abstimmen will, der zum Lager der Konservativen gezählt wird, aber in der Vergangenheit immer wieder mal mit seinen liberalen Kollegen votiert hatte, sei nicht bekannt.

In „Roe v. Wade“ hatte der Oberste Gerichtshof entschieden, dass der Zugang zur Abtreibung ein verfassungsmäßiges Recht jeder Frau ist. In „Planned Parenthood v. Casey“ garantierte das Gericht 1992 das Recht auf den Schwangerschaftsabbruch, bis der Fötus außerhalb des Mutterleibs lebensfähig wäre – in der Regel nach der 22. bis 24. Schwangerschaftswoche. Im Fall einer Abschaffung wird erwartet, dass rund die Hälfte der Bundesstaaten rasch weitgehende Abtreibungsverbote einführen würden.

Solche schärferen Abtreibungsgesetze gibt es bereits in mehreren Staaten. Ein entsprechendes Gesetz aus Mississippi, das die meisten Abtreibungen nach der 15. Woche verbietet und damit klar gegen „Roe v. Wade“ verstößt, nahm der Supreme Court als Anlass, sich des Themas anzunehmen.

In Texas gilt bereits das Herzschlag-Gesetz

In Texas gilt seit dem vergangenen September das sogenannte Herzschlag-Gesetz, das Abtreibungen etwa ab der sechsten Schwangerschaftswoche verbietet, also zu einem Zeitpunkt, zu dem die meisten Frauen noch gar nicht wissen, dass sie schwanger sind. Ausnahmen für Schwangerschaften als Folge von Vergewaltigung und Inzest sind nicht vorgesehen.

Republikaner im konservativen Alabama kündigten an, im Fall eines Urteils schnell zu handeln und Abtreibungen komplett zu verbieten. So erklärte etwa Lew Burdette, der für das Gouverneursamt in dem Südstaat kandidiert: „Als nächster Gouverneur von Alabama werde ich sicherstellen, dass Abtreibung in allen Fällen illegal ist. Die Menschen in Alabama wollen das ungeborene Leben beschützen, und mein Glaube sagt mir, dass das Leben mit der Empfängnis beginnt.“

Demokraten sind empört

Konservative Hardliner im Kongress in Washington wie die Abgeordnete Marjorie Taylor Greene sprachen von der „besten und wichtigsten Nachricht unseres Lebens“. Der republikanische Senator Josh Hawley forderte den Supreme Court auf, die endgültige Entscheidung „jetzt“ zu veröffentlichen.

Führende Demokraten reagierten empört. Die Abschaffung des Abtreibungsrechts wäre „eine der schlimmsten und schädlichsten Entscheidungen in der modernen Geschichte“, erklärten die Vorsitzende des Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, und der Mehrheitsführer im Senat, Chuck Schumer.

Die Gouverneurin des Bundesstaates New York, Kathy Hochul, erklärte, dass sie das Recht auf Abtreibung schützen werde. „Abtreibung wird in New York immer sicher und zugänglich sein.“ Kaliforniens Gouverneur Gavin Newsom kündigte an, das Recht auf einen Schwangerschaftsabbruch in der Landesverfassung festschreiben zu wollen.

Obama warnt eindringlich

Der ehemalige US-Präsident Barack Obama warnte eindringlich. „Die Folgen dieser Entscheidung wären ein Schlag nicht nur für die Frauen, sondern für alle, die glauben, dass es in einer freien Gesellschaft Grenzen für den Eingriff des Staates in unser Privatleben gibt“, erklärte der 60-Jährige am Dienstag in einer Mitteilung.

„Nach der Logik des Gerichts könnten die Parlamente der Bundesstaaten vorschreiben, dass Frauen jede Schwangerschaft bis zum Ende austragen müssen, unabhängig davon, wie früh sie ist und welche Umstände zu ihr geführt haben - selbst bei Vergewaltigung oder Inzest“, so Obama.

Biden: Brauchen landesweit Gesetz

Der amtierende US-Präsident Joe Biden äußerte sich angesichts der Tatsache, dass es noch kein fertiges Urteil gibt, zunächst zurückhaltend. Er erklärte, die Wahlfreiheit von Frauen sei „entscheidend“ und „Roe v. Wade“ sollte nicht gekippt werden.

Kurz darauf legte er nach und erklärte, man werde sich dagegen wehren. Es brauche ein landesweites Gesetz, um das Recht auf Abtreibung zu schütze. Er wolle sich dafür einsetzen, dass ein solches Gesetz „verabschiedet und unterzeichnet“ werde.

Das allerdings ist leichter gesagt als getan. Die aktuellen, äußerst knappen Mehrheitsverhältnisse im Senat erschweren es für Bidens Demokraten, ein solches Gesetz schnell durchzubringen.

Außerdem droht den Demokraten bei den Kongresswahlen im November der Verlust ihrer Mehrheiten in beiden Kammern. Sollten die Republikaner, worauf vieles derzeit hindeutet, sowohl das Repräsentantenhaus als auch den Senat erobern, könnten sie selbst ein landesweites Gesetz schaffen – eines, das Abtreibungen beschränken könnte.

In einer Mail an Unterstützer erklärte Präsident Biden daher, es sei klar, dass es bei den Midterms im November um das Recht auf Abtreibung gehen werde. Die Demokraten würden sicherstellen, dass die Republikaner für ihre „unablässigen Attacken“ bezahlen müssten.

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