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Auf dem Weg. Die Zahl der Organspender ist in Deutschland trotz Coronakrise gestiegen.

© dpa

DSO-Vorstand Rahmel zur Organspende: „Eine sehr positive Entwicklung“

Trotz Coronakrise sind die Organspenderzahlen gestiegen. Im Interview erklärt DSO-Vorstand Axel Rahmel, warum er darin noch keine Trendwende sieht.

Die Zahl der Organspender ist im ersten Halbjahr um mehr als sieben Prozent gestiegen, die der gespendeten Organe um drei Prozent. Ist das die ersehnte Trendwende oder liegt das noch im Bereich üblicher Schwankungen?

Es ist zunächst mal eine sehr positive Entwicklung, dass die Zahl der Organspender trotz der Coronavirus-Pandemie im ersten Halbjahr 2020 nicht zurückgegangen ist. In anderen Länder wie Italien, Spanien oder Frankreich sind die Zahlen zumindest in der Hochphase der Krise dramatisch eingebrochen.

Das ist bei uns nicht der Fall. Ob es sich um eine Trendwende handelt, vermag ich noch nicht zu beurteilen. Der wesentliche Teil der Steigerung geht ja auf die Monate Januar und Februar zurück. Da waren es fast 30 Prozent mehr als im Vergleichszeitraum 2019. Wenn es dabei geblieben wäre, würde ich sagen: Ja, das ist die Trendwende. Das hat sich dann aber nicht mehr so fortgesetzt.

Welche Folgen hatte denn die Coronakrise für Organspenden und Transplantationen? Kam dadurch alles zum Erliegen?

Nein, in Deutschland ging vieles weiter. Zwar hat es zweifellos Faktoren gegeben, die sich negativ ausgewirkt haben könnten. Auf vielen Intensivstationen wurden Betten freigehalten, es gab große Umstellungen im Klinikbetrieb. Doch offensichtlich hatte man dort die Organspende trotzdem weiter im Blick. Und durch die Maßnahmen, die hier getroffen wurden, hatten wir eine andere Situation als in manchem südeuropäischen Land. Es kam hier nicht zu einer Überforderung, wo überlegt werden musste, wer noch behandelt werden kann und wer nicht.

Schwer einzuschätzen ist allerdings, ob es nicht vielleicht durch die Krisensituation eine Verschiebung bei den Todesfällen in Kliniken gab, die sich auch auf Organspenden ausgewirkt hat – durch weniger Patienten in der Notaufnahme etwa mit Herzinfarkten, Schlaganfällen oder Hirnblutungen. Das wissen wir aber erst am Ende des Jahres, wenn alle Daten vorliegen.

Auffällig ist, dass sich die Zahl der gespendeten Organe zwar erhöht, die Zahl der Transplantationen aber verringert hat. Wie ist das zu erklären?

Bisher war es immer so, dass wir durch das Eurotransplant-Vergabeverfahren etwas mehr Organe erhielten als wir an die anderen beteiligten Länder abgaben. Im ersten Halbjahr 2019 bezog Deutschland aus dieser Zusammenarbeit 83 Organe mehr, als hierzulande gespendet wurden. In den ersten sechs Monaten dieses Jahres betrug die Differenz nur noch sechs Organe – was vor allem dem teilweise heftigen Rückgang der Spenderzahl in anderen Eurotransplant-Ländern geschuldet war. In Ungarn etwa betrug dieses Minus im ersten Halbjahr nach vorläufigen Analysen 39 Prozent. In Belgien waren es 21, in Kroatien 14 Prozent.

Wie hat sich denn die Zahl der Patienten auf den Wartelisten entwickelt?

Sie ist weitgehend stabil geblieben. Ende Juni standen auf den Wartelisten bei Eurotransplant 9.011 Personen aus Deutschland. Im Januar 2019 waren es 9.403. Aber diese Zahlen sind nicht sehr aussagekräftig. Von den vielen Dialysepatienten etwa, die von einer Nierentransplantation profitieren könnten, findet sich nur ein Bruchteil auf der Warteliste. Das ist nicht verwunderlich, denn gerade bei der Nierentransplantation haben wir im Vergleich zu anderen Ländern eine exorbitant lange Wartezeit.

In den Dialyse- und Transplantationszentren weiß man das – und auch, dass bestimmte Patienten dadurch einfach keine Chance haben, rechtzeitig ein Spenderorgan zu erhalten. Die geschätzte Zahl der Dialysepatienten – es gibt in Deutschland dazu ja bislang kein verlässliches Register – schwanken zwischen 80.000 und 100.000. Man geht davon aus, dass knapp die Hälfte von einer Nierentransplantation profitieren würde. Diese Patienten versorgen zu können, davon sind wir meilenweit entfernt.

Vor einem halben Jahr hatten wir eine Riesendebatte um die sogenannte Widerspruchsregelung. Hat sich dadurch die Organspendebereitschaft erhöht?

Darüber lässt sich nur spekulieren. Wenn man sich die Steigerung in den Monaten Januar und Februar vor Augen führt, kann das durchaus sein. Natürlich hat die lange öffentliche Debatte die Aufmerksamkeit auf dieses Thema gelenkt. Das sehen Sie auch daran, dass es in diesen Monaten bei der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung besonders viele Anfragen nach Spenderausweisen gab. Allerdings können wir bisher nicht belegen, dass viel mehr Menschen auch einen entsprechenden Willen dokumentiert haben.

Der Bundestag hat den Vorstoß am Ende abgelehnt. Stünden wir denn anders da, wenn die Parlamentarier – ich sage mal – mutiger gewesen wären?

Ich glaube schon, dass eine Widerspruchsregelung die Auseinandersetzung mit dem Thema intensiviert hätte. Für uns als DSO war das ja das Hauptargument. Es ging nicht darum, entsprechenden Druck aufzubauen, um möglichst viele Organspender zu bekommen – wie man unterstellt hat. Wir wollten ein klares politisches Signal. Und dass das Denken an die Möglichkeit von Organspenden für die Gesellschaft selbstverständlicher werden sollte.

Für die Spanier zum Beispiel ist das Thema auch und nicht zuletzt durch ihre Widerspruchsregelung absolut präsent. In der Bevölkerung wie in den Kliniken. Wir wissen aber auch, dass das dauern kann, es erfordert einen Umdenkprozess. Die Widerspruchsregelung ist kein An- und Ausschalter. Sie hätte immer auch mit deutlich mehr Information und Aufklärung verbunden sein müssen.

Das haben sich die Deutschen ja nun auch mit ihrer Entscheidungslösung vorgenommen. Was tut sich denn jetzt beispielsweise bei dem angekündigten Online-Register?

Es ist der Auftrag ergangen, ein solches Register zu erstellen. Das wird natürlich noch dauern, rechtliche und technische Aspekte müssen geklärt werden. Das Gesetz sieht eine Übergangsfrist von zwei Jahren vor.

Auch die Hausärzte sollen ihre Patienten künftig zu einer Entscheidung ermutigen. Merken Sie hier bereits ein stärkeres Engagement?

Auch das ist noch Zukunftsmusik. Die Hausärzte sollen dafür dann ja auch eine finanzielle Entschädigung erhalten. In der Zwischenzeit haben wir ein E-Learning-Modul zur Organspende entwickelt, das bereits von mehr als 2.000 Ärztinnen und Ärzten genutzt wurde. Ich empfinde das als sehr positives Zeichen. Auch in der Ärzteschaft gibt es offenbar eine große Bereitschaft, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen.

Den Kliniken hat die Politik vor über einem Jahr mehr Zeit und mehr Geld für Organtransplantationen bewilligt. Die Rufbereitschaft wurde verbessert, es wurden Transplantationsbeauftragte freigestellt. Von diesen Strukturreformen müsste man inzwischen doch was merken, oder?

Natürlich dauert es, bis das alles in der Praxis umgesetzt ist. Aber bei der Schulung der Transplantationsbeauftragten hatten wir schon kurz nach der Gesetzesverabschiedung einen regelrechten Boom. Die Coronakrise hat das leider wieder ein bisschen gebremst. Mit den Ärztekammern, die diese Fortbildung organisieren, gibt es nun aber neue Initiativen, mit Abstandsregelungen oder als virtuelle Treffen. Und auch dafür gibt es großes Interesse.

Wir werden alles daransetzen, diese Schulungen wieder in großem Umfang in Gang zu setzen. Das wird zwar nicht zu einem sprunghaften Anstieg der Organspendezahlen führen. Ich hoffe aber, dass es nach und nach zu einem anderen Denken und Handeln in den Krankenhäusern beiträgt.

Arbeitsverdichtung und Pflegekräftemangel in den Kliniken sind aber wohl nicht besonders förderlich für mehr Organspenden…

Die Leistungsverdichtung auf den Intensivstationen spielt sicher eine Rolle für unsere niedrigen Zahlen. Das Klinikpersonal muss oft sehr schwierige Gespräche mit Angehörigen führen, dafür braucht es Ruhe und Zeit. In der momentanen Situation vieler Häuser sind das große Herausforderungen. Und insofern trägt der Pflegekräftemangel wohl auch dazu bei, dass das Thema Organspende bei uns nicht ähnliche Priorität hat wie in anderen Ländern.

Wo liegt Deutschland denn im internationalen Vergleich beim Spendenaufkommen?

Wenn Sie Luxemburg mit seiner geringen Einwohnerzahl herausnehmen, bilden wir – gemessen an der Einwohnerzahl – im Eurotransplant-Verbund immer noch das Schlusslicht. Wenn man nur die Spenden nach Hirntod betrachtet, liegen wir vor den Niederlanden, denn dort gibt es auch einen hohen Anteil von Spendern nach Herz-Kreislauf-Tod. Außerhalb von Eurotransplant ist Spanien der absolute Spitzenreiter.

Es hat da jetzt zwar einen deutlichen Einbruch durch die Coronakrise gegeben. Ich höre aber, dass sich dort, wie auch in Italien und Frankreich, die Zahl der Organspender schon wieder deutlich nach oben bewegt.

Woran hapert es hierzulande denn vor allem? Was müsste – politisch/strukturell – noch verbessert werden, um die Organspendezahlen nach oben zu bringen?

Die Politik hat eine Menge getan. Das erste war das Gesetz zur Verbesserung der Zusammenarbeit und der Strukturen bei der Organspende. Das war eine ganz wichtige Weichenstellung in der Zusammenarbeit mit den Entnahmekrankenhäusern. Auch das Gesetz zur Stärkung der Entscheidungsbereitschaft kann ein zusätzlicher Baustein sein. Wichtig ist aber nicht nur der Gesetzgeber, sondern auch das praktische Tun in den Kliniken und die Auseinandersetzung mit dem Thema in der Bevölkerung. Ich würde mir wünschen, dass da vieles selbstverständlicher wird. Das hätte ja auch einen entlastenden Effekt für die Angehörigen.

Wie oft entscheiden denn die Angehörigen ohne Festlegung des möglichen Spenders?

Im vergangenen Jahr lag bei weniger als der Hälfte der möglichen Spender eine Entscheidung vor, die sie selber zu Lebzeiten getroffen hatten. Eine schriftliche Festlegung gab es nur zu 15 Prozent. In einem Viertel der Fälle waren Zustimmung oder Ablehnung mündlich mitgeteilt worden, etwa in Gesprächen mit der Familie oder dem Lebenspartner.

In allen anderen Situationen waren es die Angehörigen, die entweder nach dem vermuteten Willen des Verstorbenen entschieden haben oder nach eigenen Wertvorstellungen in die Spende eingewilligt beziehungsweise sich dagegen ausgesprochen haben.

Axel Rahmel, Jahrgang 1962, ist seit April 2014 Medizinischer Vorstand der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO). Der gelernte Herzchirurg kam dort ans Ruder, als die Skandale um Manipulationen gerade hochkochten und die Spendenbereitschaft der Deutschen in den Keller ging. Vorher war er neun Jahre lang Medizinischer Direktor der Eurotransplant International Foundation im niederländischen Leiden, die für die Verteilung von Spenderorganen zwischen acht Ländern zuständig ist.

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