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Update

Druck auf Innenminister Seehofer wächst: Jetzt schon 200 Kommunen, die Geflüchtete aufnehmen wollen

Kanzlerin Merkel hat sich erstmals mit dem Seebrücke-Bündnis getroffen - und lange zugehört. Mehr Menschen aufnehmen will sie anscheinend vorerst nicht.

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Inzwischen haben sich 200 deutsche Städte, Gemeinden oder Landkreise zu "sicheren Häfen" erklärt, die bereit sind, weitere gestrandete Geflüchtete oder aus Seenot Gerettete aufzunehmen. Das machte das Bündnis Seebrücke am Dienstag bekannt, die die Initiative im Sommer vor zwei Jahren ins Leben gerufen hatten.

Die Kommunen der Seebrücke trafen sich am Dienstag erstmals mit der Bundeskanzlerin. Sie wollen sich jenseits der Verteilmechanismen engagieren, die für Menschen gelten, die hier bereits angekommen sind oder über bundesweite humanitäre oder UN-Programme nach Deutschland gelangen. Die Rechtslage für solche Aufnahmen - etwa ob die kommunale Ebene solche Initiativen überhaupt ergreifen darf - ist unklar; Bundesinnenminister Seehofer lehnt sie bisher ab.

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Sein Haus verwies ursprünglich darauf, dass seine Ansprechpartnerinnen die Länder seien. Vor Wochen versagte er aber auch Thüringen und Berlin die Zustimmung zu Aufnahmeprogrammen, die auf Landesebene beschlossen worden waren. Beide Länder wollen möglicherweise dagegen klagen. Neben Berlin ist Potsdam Mitglied der Seebrücke, Potsdams Oberbürgermeister Mike Schubert (SPD) koordiniert die Initiative.

„Zeichen der Wertschätzung“ - Düsseldorfs OB sieht aber auch Enttäuschung

Schubert zeigte sich im Gespräch mit dem Tagesspiegel am Dienstagabend zufrieden und erfreut nach dem virtuellen Treffen seiner OB-Kolleginnen und -Kollegen, für das sich die Kanzlerin etwa zwei Stunden nahm - und, so hieß es aus Kreisen der Gäste -, den Stadtoberhäuptern und Landrätinnen viel Redezeit ließ. "Ich sehe die Konferenz mit der Bundeskanzlerin als ein Zeichen der Wertschätzung für die Städte, die sich im Bündnis engagieren" sagte Schubert.

Es sei schließlich "kein Bündnis der Oberbürgermeister, sondern der Städte". Dahinter stünden demokratisch gewählte Stadt- und Gemeinderäte, die dies beschlossen hätten. Er habe nicht erwartet, dass nun, nach zwei Jahren, mit einem Treffen alle Probleme gelöst seien: "Ich denke, dass weitere Gespräche nötig sind und dass es nicht allein bei einem Meinungsaustausch bleiben sollte", sagte Schubert. Er plädiere für eine Arbeitsgruppe von Bund, Ländern und kommunalen Spitzenverbänden, "um die starren Verteilungsschlüssel um eine freiwillige Komponente zu ergänzen". Derzeit werden Neuankömmlinge nach dem sogenannten Königsteiner Schlüssel auf die Länder verteilt, je nach Wohlstand und Bevölkerungszahl der jeweiligen Regionen.

Schuberts Kollege und Parteifreund Thomas Geisel, der scheidende OB von Düsseldorf, einer weiteren Landeshauptstadt, teilt die Auffassung, dass die Kanzlerin ein Zeichen zugunsten der aufnahmebereiten Städte und ihres Engagements habe setzen wollen. Dem Tagesspiegel sagte er aber auch, dass es unter einigen Kolleginnen und Kollegen "eine gewisse Enttäuschung" gegeben habe. "Über die 1500 Menschen von den griechischen Inseln hinaus scheint Frau Merkel nicht zu Zusagen bereit.“ In der Frage, ob Deutschland mehr Menschen aufnehmen könne, habe es "wenig Bewegung" gegeben. Merkel sei offenbar bemüht, in Europa kein falsches Zeichen zu setzen: "Wir werden wohl so rasch keine konkreten Ergebnisse haben, die Kanzlerin scheint da die Sorge zu haben, dass die europäischen Partner sich entspannt zurücklehnen, wenn Deutschland vorangeht.“ Geisel selbst ist der Ansicht, dass mehr humanitäre Aufnahme nötig sei: "Ich halte es gerade angesichts unserer Geschichte für geboten, auch so genannte Armuts-, Klima- oder Bürgerkriegsflüchtlinge aufzunehmen. Wir brauchen ein humanitäres Aufnahmerecht. Ist ein Islamist, der etwa in al-Sisis Ägypten verfolgt wird, also klassisch politisch, hilfsbedürftiger als jemand, der in seiner überfluteten Heimat nicht mehr bleiben kann?“

Zweifel an Seehofer auch in der Union

Innenminister Horst Seehofer nahm an der Videokonferenz mit der Kanzlerin nicht teil. Wegen seiner Weigerung steht der CSU-Politiker mehr und mehr unter Druck auch aus der eigenen Parteienfamilie. Im Sommer zeigte sich Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) nach einem Besuch in den Elendslagern auf den griechischen Inseln erschüttert, sein freidemokratischer Integrationsminister Joachim Stamp forderte im Sommer eine außerordentlicher Bund-Länder-Konferenz, um eine Linie festzulegen. Der Tagesspiegel berichtete im August, dass Seehofer die heikle Frage ohne Beteiligung des Regierungskabinetts im Alleingang entschieden hatte.

Weitere Landesaufnahmeprogramme könnten folgen - das wie Berlin und Thüringen rot-rot-grün regierte Bremen dachte schon im Sommer darüber nach. Bremens grüne Integrationssenatorin Anja Stahmann kritisierte seinerzeit Seehofer scharf und bezweifelte implizit die Rechtsgrundlage für sein Nein an die beiden Länder: "Nach dem Aufenthaltsgesetz kann jedes einzelne Bundesland aus humanitären Gründen Menschen aufnehmen. Es ist nicht die Aufgabe des Bundes, solche Angebote auszuschlagen", erklärte die Grünen-Politikerin.

Esken: „Es muss gehandelt werden.“

Auch die Kirchen machen Druck. Der Vorsitzende des Rats der Evangelischen Kirche in Deutschland, Bischof Heinrich Bedford-Strohm, erklärte im Sommer sein Unverständnis, "warum der Innenminister hier nicht zustimmt". Die evangelische Kirche finanziert inzwischen selbst Seenotrettung im Mittelmeer. Das Treffen am Dienstag mit der Kanzlerin, das schon einmal verschoben wurde, verschafft der Seebrücke-Initiative und damit den Landes- und Kommunalprogrammen jetzt neue Sichtbarkeit.

Auch die SPD-Spitze äußerte sich am Dienstag positiv: SPD-Chefin Saskia Esken sprach sich dafür aus, die Kommunen stärker an der Aufnahme von Migrantinnen und Migranten aus Griechenland zu beteiligen. „Die Zeit für Beratungen ist vorbei, es muss gehandelt werden“, sagte sie der „Welt“. Es gebe genug von ihnen, die dazu bereit seien.

Die Probleme seien längst bekannt, aber Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) „stellt sich diesen Bestrebungen bewusst in den Weg und blockiert so die Aufnahme von Schutzbedürftigen“. Man habe in der Koalition ein Aufnahmekontingent des Bundes beschlossen, das umgesetzt werden müsse, bevor der Winter in den Lagern Einzug halte. „Selbstverständlich streben wir weiterhin einen gerechten europäischen Verteilungsschlüssel an, dies kann aber nicht bedeuten, dass sich Deutschland bis dahin einer geregelten Aufnahme Schutzbedürftiger verweigert.“

Kölns Oberbürgermeisterin: Signal an die übrige EU

Auch ihr Parteifreund Burkhard Jung, der Oberbürgermeister von Leipzig und Präsidnet des Deutschen Städtetages, sprach sich für mehr kommunale Mitbestimmung aus. Nachdem zunächst rund 1.550 der Migranten nach dem Brand von Moria in Deutschland Schutz zugesagt bekommen hätten, erwarte er nun, dass bei der Verteilung die Städte berücksichtigt würden, die ihre Bereitschaft zur Aufnahme erklärt hätten.

Dazu gibt es allerdings im Bündnis unterschiedliche Meinungen. Seehofers Zusage, den aufnahmebereiten Kommunen besonders viele Geflüchtete zuzuweisen, führt nämlich nicht dazu, dass mehr Menschen aufgenommen werden.

Kölns Oberbürgermeisterin Henriette Reker sagte dem Redaktionsnetzwerk Deutschland, wenn Deutschland handle, sei dies ein wichtiges humanitäres Signal an die übrigen EU-Länder. Auch Reker war zum Gespräch ins Kanzleramt geladen. Die Organisatorin der Seebrücke Liza Pflaum kritisierte eine zögerliche Herangehensweise der Bundesregierung.

“Es ist ein großes Problem, dass sowohl Union als auch SPD versuchen, das Thema auszuklammern„, sagte sie. “Immer wenn es irgendwo brennt - in Moria zum Beispiel -, gibt es öffentliche Äußerungen. Ansonsten wird das Thema unter den Tisch gekehrt."

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