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Eine kurdische Kämpferin steht Wache an der Grenze zur Türkei.

© AFP

Drohender Angriff der Türkei auf Kurdengebiet: Was bedeutet eine türkische Invasion für Deutschland?

Massenflucht, IS-Rückkehrer, Kurdenproteste: Welche Folgen hätte Erdogans Feldzug gegen die Kurden für Deutschland? Fragen und Antworten zum Thema.

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Wütende Kurden protestieren in Berlin gegen den drohenden Angriff der türkischen Armee auf das syrische Kurdengebiet. Die Türkei ihrerseits erklärt, sie lasse sich nicht von einem Einmarsch abhalten. Damit bedroht Ankara nicht nur die fragile Stabilität in der Region – eine Invasion hätte Auswirkungen auf Deutschland.

Was droht bei einem Einmarsch?

Der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan bekämpft die kurdische Autonomiezone an der syrisch-türkischen Grenze seit Jahren. Die auch Rojava genannte Region wird nicht von der Zentralregierung in Damaskus, sondern von YPG-Kämpfern kontrolliert. Die stehen der säkularen PYD nahe, die als syrische Schwesterpartei der kurdisch-türkischen PKK gilt. Bei einem Einmarsch könnte die PKK ihre Guerilla-Angriffe im Südosten der Türkei intensivieren. Erdogans Offensive – seine dritte in Syrien – wird schwieriger als 2018 die Besatzung der syrischen Kurdenenklave Afrin. Das aktuelle Einsatzgebiet vom Euphrat bis zur syrisch-irakischen Grenze ist fast 500 Kilometer lang. Die YPG-Kurden könnten zumindest in den ersten Tagen türkisches Gebiet beschießen. In der Region leben etwa vier Millionen (oft moderat-muslimische) Kurden, Araber und (christliche) Assyrer, dazu Turkmenen, Tschetschenen, Armenier. Die YPG gehört zum multiethnischen Bündnis SDF, das von den USA im Kampf gegen den „Islamischen Staat“ (IS) mit Waffen ausgerüstet wurde.

„Bis zu 100 000 Männer und Frauen stehen bereit, ihr Land zu verteidigen“, sagte Jihad Omar dem Tagesspiegel. „Dazu kommen weitere Freiwillige.“ Omar ist im Demokratischen Syrien-Rat, dem politischen Arm der SDF, für Außenbeziehungen zuständig. Man spreche noch mit den Staaten der Anti-IS-Koalition, um eine Invasion abzuwehren. Erst am Dienstag warnte das von den Kurden bislang abgelehnte Regime in Damaskus die Türkei: Man werde keine Besetzung „syrischer Erde“ akzeptieren, zitierte die regierungsnahe Zeitung „Al-Watan“ den Vize-Außenminister Faisal al-Makdad. Erdogan hat seine Pläne aber mit Damaskus’ Schutzmächten Russland und Iran abgesprochen. Al-Makdad rief die Kurden dazu auf, an die Seite der Zentralregierung zu kommen – also ihre Autonomie aufzugeben, um Ankaras Angriff zu entkommen. SDF-Kommandant Maslum Abdi nannte ein Übereinkommen mit Damaskus eine mögliche Option. Genau davor hatten führende US-Politiker gewarnt: Weil Präsident Donald Trump die Kurden fallen zu lassen drohe, müssten diese sich Syriens Regime unterordnen, um einem Angriff zu entgehen.

Was sind die Folgen für Deutschland?

Kurdische Exilanten und Vertreter der nordsyrischen Autonomieregion protestierten am Dienstag in Berlin. Hunderttausende Kurden leben in Deutschland; viele von ihnen sympathisieren mit dem Kampf der YPG. Sicherheitsbeamte rechnen mit weiteren Protesten – und schließen nicht aus, dass dabei Symbole der PKK gezeigt werden. Deren Verbot wird hierzulande härter durchgesetzt als in Frankreich, Skandinavien und den Beneluxstaaten. Offiziell spricht die Bundesregierung nicht mit der syrisch-kurdischen Autonomieregierung, hat den geplanten Einmarsch Ankaras jedoch kritisiert. Zahlreiche Politiker aus SPD und CDU zeigten sich von den USA wegen deren Truppenabzug enttäuscht. Die entwicklungspolitische Sprecherin der Linken im Bundestag, Evrim Sommer, sagte, die Amerikaner seien von den Kurden nicht als Schutzmacht gerufen worden: „Mit seinem kopflosen Abzug gibt Trump aber die kurdisch-arabische Bevölkerung Rojavas für die imperiale Machtpolitik der Türkei, Russlands und des Iran zum Abschuss frei.“

Trump hat Vorwürfe zurückgewiesen, die Kurden im Stich zu lassen. Auf Twitter verbreitete er, die USA hätten in der Region, in die Erdogan einmarschieren will, bloß 50 Soldaten gehabt. Man helfe den Kurden, die „wunderbare Kämpfer“ seien, weiter mit Waffen und Geld. Doch schon jetzt können die kurdischen Sicherheitskräfte die IS-Gefangenencamps kaum bewachen. Dort sitzen 12 000 IS-Kämpfer ein – auch Deutsche.

Was wird aus deutschen IS-Kämpfern?

Mehr als 100 Dschihadisten wollen aus Syrien und Irak nach Deutschland zurückkehren. Das teilte das Bundesinnenministerium (BMI) am Dienstag mit; 1050 Islamisten aus Deutschland seien in den vergangenen Jahren in den Dschihad gereist. Rund ein Drittel befinde sich wieder in Deutschland, viele werden als Gefährder beobachtet. Zu 220 Personen lägen Hinweise vor, dass sie in Syrien oder Irak gestorben sind. Noch sitzen laut BMI 111 aus Deutschland stammende Islamisten in der Kurdenregion in Haft. Im Kriegsfalle könnten sie fliehen – die Türkei wird die Dschihadisten, so die Einschätzung kurdischer, deutscher und amerikanischer Beobachter, nicht wirksam aufhalten. Kriegserprobte Männer befänden sich dann auf der Flucht in einer Region, in der staatliche Kontrolle fehlt: Auch im Irak droht derzeit Chaos. In Deutschland gelten nicht nur IS-Anhänger, sondern auch Islamisten der Muslimbruderschaft und türkische Rechte als Sicherheitsrisiko. Sie hatten kurdische Kundgebungen in der Vergangenheit gestört.

Wieso ist die Offensive noch gefährlich?

Ankaras Armee war nach den Massenentlassungen infolge des Putschversuch 2016 geschwächt. Sie hatte sich schon beim Einmarsch in den syrischen Distrikt Afrin mit Islamisten, turkmenischen Nationalisten und türkischen Rechtsradikalen verbündet. An der türkischen Südgrenze stehen nach Tagesspiegel-Informationen auch heute aus Syrien geflohene Islamisten bereit. In der aus einstigen Rebellentruppen geformten „Syrischen Nationalen Armee“ und der „Nationalen Befreiungsfront“ sind bis zu 80 000 Freischärler organisiert. Die Erdogan-nahe türkische Zeitung „Yeni Akit“ schrieb dazu: „Mohammeds Armee ist zurück!“

Die Menschenrechtler von Medico International und der Gesellschaft für bedrohte Völker befürchten, dass im Fall eines türkischen Angriffs mit Massenfluchten zu rechnen sei –wie das Beispiel des syrisch-kurdischen Afrins zeige: 2018 flohen mehr als 200.000 Männer, Frauen und Kinder vor Ankaras Armee und den mit ihr verbündeten Islamisten. In ihre Häuser zogen arabische Syrer, die zuvor in der Rebellenenklave Idlib gelebt hatten. Erdogan hat angekündigt, in seiner neuen „Sicherheitszone“ bis zu zwei Millionen Syrer aus anderen Landesteilen ansiedeln zu wollen.

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