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Der Vorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, Robert Habeck, beim digitalen Parteitag.

© Kay Nietfeld/dpa

Dritte Kraft mit Führungsanspruch: Grünen-Chef Habeck warnt vor Spaltung der Gesellschaft

Parteichef Habeck und seine Co-Vorsitzende Baerbock schlagen einen staatstragenden Ton an und werben auch bei Skeptikern grüner Politik um Verständnis.

Es ist kein klassischer Parteitagsauftritt, eher eine Fernsehansprache an die Nation: „Liebe Menschen an den Bildschirmen“, beginnt Annalena Baerbock ihre Rede am Freitagabend. Die Grünen-Chefin steht auf einer Bühne im Berliner Tempodrom, der „Sendezentrale“ für den Parteitag. Und natürlich hat es auch mit dem digitalen Format zu tun, dass Baerbock getragener klingt als sonst.

Doch es liegt auch daran, dass sie einen anderen Ton anschlägt. Baerbock richtet sich, ebenso wie am Tag danach ihr Co-Vorsitzender Robert Habeck, auch an ein Publikum jenseits des grünen Milieus. „Wir machen mit unserem neuen Grundsatzprogramm ein Angebot für Sie, für Dich, für uns alle“, sagt sie.

Auch Habeck wirft Fragen jenseits der Parteipolitik auf, warnt vor einer Spaltung der Gesellschaft in der Corona-Krise. Die Pandemie verstärke Fliehkräfte, vergrößert soziale Kluften, steigere die Gereiztheit. Der gemeinsame Grund der Gesellschaft sei „ausgetrocknet“ und habe „Risse bekommen“.

Es dürfe sich nicht, wie in den USA, ein Graben bilden, „ der das Land in zwei Hälften teilt“. Es sei Aufgabe der Grünen, eine Politik zu formen, "die die Systeme unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens neu eicht".

Grüne beschließen neues Grundsatzprogramm

Eigentlich wollten die Grünen an diesem Wochenende in Karlsruhe zusammenkommen, um das neue Grundsatzprogramm zu beschließen – in der Stadt, in der die Partei vor 40 Jahren gegründet wurde. Doch die Corona-Pandemie ließ die Versammlung in einer Stadthalle nicht zu.

Stattdessen nun der digitale Parteitag, bei dem sich die rund 800 Delegierten per Video zuschalten können. Er wird zu einer Mischung aus professionell inszenierter Fernsehshow und einem ganz normalen Parteitag mit Reden, Gegenreden und Tagesordnungsdebatten.

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Mit einer ordentlichen Portion Selbstbewusstsein gehen die Grünen ein Jahr vor der Bundestagswahl in den Parteitag. „Wir kämpfen um die Mehrheit in diesem Land“, sagt Bundesgeschäftsführer Michael Kellner. Macht sei im grünen Kosmos oft ein „Igitt-Begriff“ gewesen, sagt Habeck. Doch nun kämpfe die Partei für ihre Lösungen um die Macht.

„Jede Zeit hat ihre Farbe“ steht an der Wand hinter der Bühne im Tempodrom. Welche Farbe das aus Sicht der Grünen ist, machen die leuchtend-grünen Buchstaben deutlich.

„Mit unserem großen Anspruch muten wir auch anderen etwas zu“

Baerbock und Habeck formulieren nicht nur unmissverständlich ihren Machtanspruch. Sie fordern zugleich mehr Verständnis für diejenigen, die Angst vor einem sozial-ökologischen Wandel haben. „Veränderung, Innovation und Bewegung sind nicht für alle eine Verheißung, sondern für viele auch eine Zumutung“, sagt Baerbock.

Je „fragiler“ und „verletzter“ das Leben sei, desto stärker würden Veränderungen als „Bedrohung“ empfunden, sagt Habeck. „Mit unserem großen Anspruch muten wir auch anderen etwas zu.“

Es ist eine Botschaft, die sich auch an die Grünen-Kritiker aus der Klimabewegung „Fridays for Future“ richtet, denen die Partei nicht mehr radikal genug ist. Selbst wenn die Grünen bei der Bundestagswahl 20 oder 30 Prozent erreichen sollten, könnten sie nicht allein eine sozial-ökologische Marktwirtschaft bauen, sagt Baerbock.

Dazu brauche man in einer Demokratie Mehrheiten, eine grundsätzliche Akzeptanz und die Bereitschaft der Menschen mitzumachen. „Wenn wir die Erderhitzung eindämmen wollen, wenn wir sinnlosen Autobahnneubau hinter uns lassen wollen“, sagt Habeck, „dann stellen wir uns nicht über das Gesetz, dann schaffen wir die Mehrheiten, Gesetze zu ändern.“

Nächtlicher Kompromiss zum Klimaschutz

Wie radikal die Grünen beim Klimaschutz sein sollen – diese Frage war im Vorfeld auch in der Partei umstritten. Festgemacht hatte sich das am Umgang mit dem Pariser Klimaabkommen, in dem sich 195 Staaten verpflichtet haben, die Erderhitzung auf deutlich unter zwei Grad, möglichst auf 1,5 Grad zu begrenzen.

Einigen Grünen ging das Bekenntnis der Parteiführung zum Pariser Abkommen nicht weit genug, sie wollten die Marke von 1,5 Grad zur „Maßgabe der Politik“ machen. Doch Baerbock widerspricht gleich zu Beginn des Parteitags: „Am Pariser Vertrag zu rütteln – und sei es noch so gut gemeint, verhindert doch gerade, dass wir ihn gemeinsam endlich mit Leben füllen.“

Es hätte eine heikle Abstimmung für die Grünen-Spitze werden können, doch in nächtlichen Verhandlungen gelingt es, einen Kompromiss zu verhandeln. Es sei „notwendig, auf den 1,5 Grad-Pfad zu kommen“, heißt die Formulierung, mit der auch „Fridays for Future“-Aktivistin Luisa Neubauer gut leben kann, die ihre Partei sonst nicht mit Kritik verschont.

Dass der Parteiführung stattdessen eine Niederlage bei der Frage drohen könnte, ob die Grünen sich für Volksentscheide auf Bundesebene aussprechen, sieht man dort mit einer gewissen Gelassenheit. Irgendein Ventil für die Delegierten braucht schließlich auch ein digitaler Parteitag.

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