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Alexander Lukaschenko, Präsident von Weißrussland, lacht bei der Stimmenabgabe in einem Wahllokal.

© Sergei Grits/AP/dpa

Dreiste Wahlfälschung in Weißrussland: Lässt die EU Lukaschenko gewähren, verrät sie sich selbst

Was Deutschland und die EU gegen Diktator Lukaschenko tun müssen, was sie tun können – und wo ihre Möglichkeiten enden. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Ist das immer noch möglich mitten in Europa: eine Wahl dreist zu fälschen und damit durchzukommen? Oder ist es jetzt wieder möglich? Aljaksandr Lukaschenko tut es einfach und macht Weißrussland zu einem Prüfstein für die EU und für Deutschland. Was können sie, was wollen sie tun? Und wo sind sie machtlos?

Wo ist das überhaupt: die Mitte Europas?

Die meisten Verantwortungsträger wissen nicht recht, was sie antworten sollen. Gehört Weißrussland zu den drängenden Herausforderungen oder darf man es ignorieren? Schon über Grundbegriffe kann man sich nicht einigen. Wie soll man das Land nennen: Belarus oder Weißrussland? Liegt es überhaupt „mitten in Europa“? Wenn man Europa als Raum zwischen Spitzbergen im Norden, den Azoren im Westen, den Kanaren im Süden und dem Ural im Osten begreift, liegt sein geografischer Mittelpunkt ungefähr in Weißrussland.

Wer Europa hingegen nach dem politischen System ausmisst – Westen gleich Demokratie, Osten gleich mehr oder minder autoritäres Regieren –, wird Lukaschenkos Weißrussland östlich von Wladimir Putins Russland verorten. Viele Bürgerinnen und Bürger der EU dürften eine andere Frage stellen: Was haben wir mit dem Land gemein, was geht es uns an?

Der Diktator ließ das Internet abschalten

Doch in Weißrussland geht es um etwas, was zu Europas Identität zählt: demokratische Wahlen. Die am Sonntag war keine. Wahlbeobachter waren nicht zugelassen. Vertreter der Opposition durften beim Auszählen nicht dabei sein. Lukaschenko ließ das Internet abschalten, um den Informationsaustausch und die Organisation von Protesten zu erschweren.

Die offiziellen Ergebnisse zeigen Ungereimtheiten, darunter Wahlkreise mit mehr abgegebenen Stimmen als Wahlberechtigten und solche, in denen Nachbefragungen eine andere Stimmenverteilung nahelegen als vom Regime behauptet. Selbst wenn man einkalkuliert, dass die Oppositionskandidatin Swetlana Tichanowskaja nur in den Städten einen klaren Vorsprung hatte und Lukaschenko auf dem Land vorn lag, wo das Staatsfernsehen die dominierende Informationsquelle ist, spricht vieles dafür, dass Tichanowskaja die wahre Siegerin ist und Lukaschenko ihr den Erfolg gestohlen hat.

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Können Deutschland und die EU das hinnehmen? Demokratie, Rechtsstaat, Grundrechte gehören zu ihren unveräußerlichen Prinzipien. Und: Lassen EU und Bundesregierung die Opposition nicht im Stich, wenn jetzt nichts folgt außer Händeringen über die Entwicklung, verbale Kritik an Lukaschenko und verbale Solidarisierung mit den zehn Millionen Bürgerinnen und Bürgern dort?

Was tun? Antworten aus drei Zeiten: vor 1989, nach 1989, heute

Nur: Was kann man denn tun? Wer beim Fall der Berliner Mauer 1989 ein Teenager war, ist heute über 40 Jahre alt und hat Erfahrungen mit drei Zeitkorridoren, in denen die Antworten auf diese Fragen unterschiedlich ausfielen.
Im Kalten Krieg galt: Da kann man nichts machen. Beide Lager waren hochgerüstet. Den Menschen im Westen wie im Osten blieb nicht mehr als ohnmächtiger Zorn, wenn eine Demokratiebewegung niedergeschlagen wurde: Ostberlin 1953, Budapest 1956, Prag 1968, Solidarnosc 1980/81. Doch jeder dieser Eingriffe höhlte die Legitimation der kommunistischen Regime aus und bestärkte die Demokratien im Vertrauen auf die Überlegenheit ihres Systems.
Von 1989 an lief es plötzlich andersherum. Die Freiheitsbewegungen setzten sich durch, und die Diktaturen konnten wenig dagegen ausrichten. Sie stürzten von Polen und Ungarn über die Tschechoslowakei bis nach Bulgarien, Rumänien und in die Baltischen Staaten.

Jugoslawien zerbrach an den nationalen Bewegungen und durchlitt mehrere Kriegsjahre. Doch am Ende mussten die gewaltbereiten Herrscher auch dort weichen, von Slobodan Milosevic in Serbien bis Franjo Tudjman in Kroatien.

Auf den Sieg der Freiheit ist kein Verlass mehr

Inzwischen erlebt Europa eine neue ernüchternde Phase. Gesellschaften kämpfen um mehr Freiheit, aber sie siegen nicht mehr so verlässlich wie nach 1989. Undemokratische Herrscher haben Wege gefunden, mit Manipulationen an der Macht zu bleiben oder sie, falls einmal verloren, zurückzuerobern – gar nicht so selten mit Hilfe halbwegs freier Wahlen.

Massenproteste gegen Wahlfälschung in Minsk.
Massenproteste gegen Wahlfälschung in Minsk.

© Sergei Grits/AP/dpa

Die Ukraine, zum Beispiel, ist nach einem mehrfachen Hin und Her aus demokratischer Revolte und Gegenbewegung zu einem Niemandsland geworden: Formal frei und demokratisch, de facto unter hohem Einfluss alter und neuer Seilschaften.

Zudem hindert Wladimir Putin die Gesellschaft mit der Annexion der Krim und dem hybriden Krieg in der Ostukraine an freier Selbstbestimmung. Moskau ist ein Machtfaktor, der die Handlungsmöglichkeiten der EU in ihrer östlichen Nachbarschaft begrenzt. Auch gegenüber Weißrussland.

Erfahrungen, die dem ideologischen Lehrbuch trotzen

Zudem haben Erfahrungen, die dem ideologischen Lehrbuch trotzen, viele klüger gemacht. Der Glaube, dass die Geschichte nur eine Richtung kennt – das Streben nach Freiheit, solange es nicht gewaltsam behindert wird –, ist erschüttert. Polen, Ungarn, Bulgarien, Rumänien zeigen: Gesellschaften legen mitunter freiwillig den Rückwärtsgang ein, jedenfalls wenn man sie durch die Brille westeuropäischer Liberaler betrachtet. Putins Russland ist ein Beispiel dafür, dass der Sturz der Diktatur nicht automatisch zu mehr Freiheit führt. Russland hatte die Wahl zwischen Michail Gorbatschow und Boris Jelzin und dann zwischen noch ein bisschen mehr Jelzin und unzähligen Nachfolgekandidaten, bis 1999 ein damals kaum bekannter Wladimir Putin die Macht an sich riss.

Das Drama Weißrusslands: falsches Timing

Weißrussland wird seit 1994 von Lukaschenko regiert. Eine freie Wahl im westlichen Sinne hat es in den 26 Jahren nie gegeben. Er musste freilich auch nicht jede Wahl so dreist fälschen wie jetzt. So wird das „Timing“ des Aufbegehrens gegen ihn zum Kern des Dramas. Die Demokratiebewegung ist zu spät dran, um auf Hilfe von außen zählen zu können. Sie hat das Zeitfenster, in dem sie auf der richtigen Seite der Geschichte gewesen wäre, verpasst.

Im westlichen Europa ist die Freiheitsbegeisterung abgeflaut. Man blickt skeptisch auf alles, was noch mehr Unruhe verspricht, als ohnehin herrscht. Russland fühlt sich wieder stark genug, um unerwünschte Veränderungen an seinen Außengrenzen zu verhindern. Putin mag Lukaschenko nicht. Er verachtet ihn, weil der es nicht schafft, sich auf eine Art an der Macht zu halten, die den pseudodemokratischen Anschein wahrt. Ein innenpolitisch geschwächter Lukaschenko ist für ihn aber bequem und allemal besser als eine Opposition, die das Land über kurz oder lang nach Westen öffnen will.

Gewalt beenden, nachzählen, neu wählen - unter Aufsicht

In dieser Lage haben Deutschland und die EU eine Pflicht und zwei Optionen. Die Pflicht: Sie müssen von Lukaschenko fordern, die Gewalt gegen die Demokratiebewegung zu beenden, eine Nachzählung und bei anhaltenden Zweifeln eine neue Wahl zuzulassen, beides unter internationaler Aufsicht.

Die Optionen: ein Gespräch mit Moskau über eine Liberalisierung in Weißrusslands mit der Zusicherung, nicht dessen Annäherung an EU und Nato zu betreiben. Gelingt das nicht, bleiben als Alternative „Crippling sanctions“ gegen Weißrussland und Russland. Lukaschenko gewähren lassen kann die EU nicht, ohne ihre Werte zu verraten. Zugleich fehlen ihr die Machtmittel, um mehr als eine geduldige und moderierte Liberalisierung Weißrusslands zu erreichen.

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