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Kehrtwende. Der Innenminister von Nordrhein-Westfalen, Herbert Reul, lässt zahlreiche Tötungsverbrechen auf einen möglichen rechten Hintergrund überprüfen. Ein spektakulärer Fall ist schon korrgiert.

© Federico Gamberini/dpa

Exklusiv

Dreifachmord von Overath als Nazi-Tat eingestuft: NRW untersucht Tötungsverbrechen auf rechtes Motiv

Nach jahrlanger Kritik prüft das Innenministerium NRW viele „Grenzfälle“. Minister Reul wertet zumindest den Angriff auf eine Anwaltsfamilie als rechten Mord.

Von Frank Jansen

Der Ex-Söldner trägt SS-Runen am Hemdkragen und handelt eiskalt. Thomas Adolf dringt am 7. Oktober 2003 in Overath (bei Köln) mit einer Pumpgun in die Kanzlei des Anwalts Hartmut Nickel ein, beschimpft den Mann und schießt. Nickel, seine Frau Mechthild Bucksteeg und die Tochter Alja Nickel sind sofort tot.

Der Neonazi hasst den Anwalt. Nickel hatte dazu beigetragen, dass Adolf wegen Schulden ein Gehöft aufgeben musste, auf dem er Treffen mit „Kameraden“ veranstaltet hatte. Adolf und die Freundin nehmen noch eine Börse mit Kleingeld mit, dann verlassen sie den Tatort. Kurz nach dem Dreifachmord schreibt Adolf im Namen einer „SS-Division Götterdämmerung“ eine „Bekanntmachung an das deutsche Volk“ und bezeichnet die Tat in Overath als „Befreiung dieses Teiles des Reichsgebiets“.

Ein offenkundig rechtsextremes Tötungsverbrechen. Innenministerium und Landeskriminalamt von Nordrhein-Westfalen sahen das jedoch jahrelang anders, obwohl auch das Landgericht Köln im Urteil 2004 Thomas Adolf nationalsozialistische Fantasien bei der Tat bescheinigte.

Die Richter verurteilten den Neonazi zu lebenslanger Haft, verkündeten eine besondere Schwere der Schuld und verhängten Sicherungsverwahrung für die Zeit nach der Haft. Nun ändert sich auch bei Ministerium und Polizei die Bewertung. Als Teil einer größeren Prüfaktion.

Innenminister Herbert Reul (CDU) hat Anfang Juni das LKA per Erlass beauftragt, das Polizeipräsidium Köln „die gesamte Tathandlung“ in Overath als rechts motiviertes Tötungsdelikt nachmelden zu lassen. Damit wird vollzogen, was im Dezember 2019 der damalige LKA-Chef Frank Hoever auf Anfrage des Tagesspiegels mitgeteilt hatte.

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Das Verbrechen sei „überwiegend rechts motiviert“ gewesen, sagte Hoever. Der Tagesspiegel hatte in seiner Langzeitrecherche zu Todesopfern rechter Gewalt seit der Wiedervereinigung den Fall Overath mehrfach erwähnt und das Ministerium befragt. Auch im Düsseldorfer Landtag wurde über den Fall gesprochen.

Jetzt erfolgt fast 19 Jahre nach der Tat endgültig die Korrektur. Damit starben nach offizieller Lesart bundesweit 113 Menschen bei rechtsextremen Angriffen seit der Wiedervereinigung. Der Tagesspiegel und das mit ihm recherchierende Portal Zeit Online kommen auf mehr als 190 Tote. Auch Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) hält eine Zahl von ungefähr 200 Opfern für realistisch.

Das Innenministerium NRW erklärt die Kehrwende im Fall Overath so: „Im Zuge der strategischen Neuausrichtung des LKA NRW in den letzten Jahren wurde insbesondere die Bekämpfung des Rechtsextremismus intensiviert“. Neben einer „deutlichen Stärkung der personellen und sächlichen Ressourcen gingen damit auch ein Generationenwechsel sowie die Öffnung für nicht ausschließlich polizeiliche Perspektiven einher“, sagt das Ministerium.

25 „Grenzfälle“ mit 30 Todesopfern

Das sei durch Mitarbeiter aus der Wissenschaft - Politikwissenschaftler, Psychologen und Kommunikations- und Medienwissenschaftler - gegeben. „Diese neu gewonnene Diversität und die neuen Strukturen haben es erlaubt, einen unvoreingenommenen Blick aus der heutigen Perspektive auf das Tatgeschehen einzunehmen“, heißt es.

Reul belässt es aber nicht dabei. Er hat eine umfassende Prüfung von 25 weiteren „Grenzfällen“ mit 30 Todesopfern auf einen möglichen rechten Hintergrund angestoßen. Die Zahl der Fälle könnte zudem noch wachsen, sagt ein Sprecher des Ministeriums.

Reul erklärt die Gründe für die Aufarbeitung durch ein Spezialisten-Team, die neun Monate dauern soll, so: „Rechtsextremismus ist nach wie vor eine der größten Gefahren für unsere Demokratie. Deshalb ist es gut und wichtig, dass wir Grenzfälle aus der Vergangenheit noch einmal neu betrachten und bewerten.“ Die Polizeiarbeit habe sich über die Jahre weiterentwickelt, das betreffe auch die Auswertung und Analyse rechter Tötungsdelikte.

Der Minister betont, „Rechtsextremismus gehört zu den perfidesten Tatmotiven, ihn zu bekämpfen ist unsere Pflicht. Deshalb korrigieren wir die Statistik korrigiert, wo es nötig ist und sensibilisieren weiterhin die Gesellschaft.“ Das sei man „den Opfern und den Hinterbliebenen schuldig“. Geleitet wird das Projekt mit dem Titel „ToreG NRW“ (Todesopfer rechter Gewalt NRW) im LKA von einem Politikwissenschaftler.

Drei Polizisten in Dortmund und Waltrop erschossen

Mehrere Tötungsverbrechen, die jetzt unter die Lupe genommen werden, hat zudem auch der Tagesspiegel schon in der Langzeitrecherche genannt, darunter den Fall Michael Berger. Der Neonazi hatte ebenfalls einen Dreifachmord verübt.

Berger erschießt am 14. Juni 2000 in Dortmund aus seinem Wagen heraus den Polizisten Thomas Goretzky. Ihm war aufgefallen, dass Berger sich nicht angeschnallt hatte. Der Neonazi flüchtet und fährt in die Kleinstadt Waltrop. Dort feuert er an einer Kreuzung gezielt auf zwei Beamte in einem Streifenwagen.

Der Polizist Matthias Larisch und seine Kollegin Ivonne Hachtkemper sterben durch Schüsse in den Kopf. Berger flieht weiter und erschießt sich dann im Wagen selbst. Auf einem Aufkleber am Auto steht, „Töte sie alle.... Gott wird seine Wahl treffen“. Bei der Durchsuchung von Bergers Wohnung findet die Polizei weitere Waffen sowie Mitgliedsausweise der rechtsextremen Parteien DVU und „Republikaner“. Doch NRW hat den Fall bislang nicht als rechts motiviertes Tötungsverbrechen eingestuft.

Zu den „Grenzfällen“, die sich das LKA vornimmt, zählen auch der Brand in einem von Türken bewohnten Mehrfamilienhaus in Duisburg im August 1984 mit sieben Toten und das Feuer in einer Asylunterkunft 1992 in Hörstel, bei dem ein Mensch starb.

Ebenfalls 1992 erlitt in Wülfrath ein jüdischer Holocaust-Überlebender, 92 Jahre alt, nach einem massiven Streit mit einem Altnazi einen Herzinfarkt und überlebte ihn nicht. Ein weiteres Tötungsverbrechen mit mutmaßlich rechtem Hintergrund wird vor allem von der linken Szene seit Jahren thematisiert.

Im März 2005 ersticht ein rechtsextremer Skinhead in Dortmund den Punk Thomas Schulz, Spitzname Schmuddel. Kurz darauf kleben Neonazis in Dortmund kleine Plakate mit der Parole, „Wer sich der Bewegung in den Weg stellt, muss mit den Konsequenzen leben“. Das Landgericht Dortmund verurteilt den Täter wegen Totschlags zu sieben Jahren Haft. Obwohl der Skinhead für seinen Hass auf Linke und Punks bekannt ist, sehen die Richter nicht das im Strafgesetzbuch genannte Mordmerkmal der „niedrigen Beweggründe“.

Dass die Prüfung von Altfällen auf ein rechtes Motiv beachtliche Lücken in den Statistiken der Polizei offenbart, hat sich bereits in drei Ländern gezeigt. Sachsen-Anhalt hat 2012 drei Tötungsverbrechen aus der Liste des Tagesspiegels als rechts motiviert nachgemeldet.

Brandenburg stufte 2015 nachträglich neun Delikte als rechte Morde ein. Berlin meldete 2018 sechs Altfälle mit sieben Toten als rechts motiviert. In Brandenburg und Berlin hatten Wissenschaftler maßgeblich die Prüfung zahlreicher Fälle betrieben und die engen Kriterien der Polizei für einen rechten Hintergrund korrigiert.

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