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Der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD).

© Jürgen Blume/imago/epd

Exklusiv

Dramatischer Appell: Thierse warnt vor Selbstzerstörung der SPD

Ex-Bundestagspräsident Thierse hat an die SPD appelliert, den Niedergang der Partei nicht zu beschleunigen. Andrea Nahles zu entmachten sei der falsche Weg.

Angesichts der drohenden Führungskrise bei der SPD hat der langjährige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse an seine Partei appelliert, Andrea Nahles nicht zu stürzen.

„Nachdem die SPD in ihrer großen und langen Geschichte mit Andrea Nahles zum ersten Mal eine Frau an ihre Spitze gewählt hat – welches Zeichen ist es, wenn diese Frau nach einem Jahr wieder gestürzt wird“, schreibt Thierse in einem Appell an die SPD-Bundestagsabgeordneten, der dem Tagesspiegel vorliegt.

„So sehr es menschlich verständlich ist, nach einer furchtbaren Wahlniederlage Personalfragen zu diskutieren – es ist der falsche Weg.“ In den vergangenen drei Jahrzehnten seiner SPD-Mitgliedschaft habe die Partei allein 13 Vorsitzende verschlissen „und damit den Niedergang der SPD nicht aufgehalten, sondern vielmehr befördert.

Die Partei- und Fraktionsvorsitzende Nahles will sich am Dienstag wegen der Kritiker in den eigenen Reihen vorzeitig der Wiederwahl um den Fraktionsvorsitz stellen. Doch der Widerstand unter den 152 Bundestagsabgeordneten ist inzwischen so groß, dass ihr das Scheitern droht, auch wenn es bisher offiziell keinen Gegenkandidaten gibt.

Solidarität vorleben

Es wird erwartet, dass sie dann auch den Parteivorsitz aufgeben müsste, da sie irreparabel beschädigt wäre. Thierse, der von 1998 bis 2005 Präsident des Deutschen Bundestages war und von 2005 bis 2013 Bundestags-Vizepräsident war, betonte: „Wer als Partei glaubwürdig für eine Politik der Solidarität eintreten will, der muss selbst Solidarität vorleben – sonst betreibt er Selbstzerstörung unserer Partei.“

Die existenzbedrohliche Situation der SPD zu personalisieren sei der bequeme Weg. „Wir müssen vielmehr auf geradezu demütige Weise einen anstrengenden Weg gehen: Den Identitätskern der SPD wieder sichtbar machen, uns thematisch neu konzentrieren auf Politik für Gerechtigkeit und Solidarität, für den sozialen Zusammenhalt einer gespaltenen, zersplitterten Gesellschaft.“ Und das unter Führung derer, die Partei und Fraktion erst neulich gewählt hätten, so Thierse.

Am Montag kommt der SPD-Vorstand offiziell zu einer vierstündigen Analyse der verheerenden Niederlagen bei der Europawahl und der Bremer Bürgerschaft zusammen.

Doch im Hintergrund blickt alles auf das, was im anderen Machtzentrum der SPD abläuft, in der Bundestagsfraktion, wo tags darauf um 14 Uhr eine womöglich historische Sitzung stattfinden wird. Nahles wollte eigentlich mit einer vorgezogenen Neuwahl ihre Kritiker überlisten und ihre Machtposition festigen. Doch stattdessen muss sie eine Niederlage fürchten – selbst wenn niemand gegen sie antritt.

Wie verheerend die Lage für sie ist, zeigt ein Stimmungsbild in der konservativen Strömung der Fraktion, dem Seeheimer Kreis. Dort gab es kein Handaufheben, wie es in einem Zeitungsbericht fälschlich hieß. Aber Teilnehmer berichten von einer „Abstimmung mit Worten“. Bei 23 Wortmeldungen habe es 22 vernichtende Beiträge gegeben. Lediglich die aus Nahles’ Heimatverband Rheinland-Pfalz stammende Abgeordnete Doris Barnett habe klar für Nahles Partei ergriffen und sie gelobt.

Schmerzgrenze unbekannt

Die große Frage nun ist, ob die Konsequenzen einer Nahles-Demontage nicht doch disziplinierend wirken könnten. Völlig unklar ist auch, bei welchem Prozentergebnis die Vorsitzende persönlich ihre Schmerzgrenze sieht. Dabei weiß keiner so recht zu sagen, was die überzeugende personelle Alternative sein soll, vor allem an der Parteispitze.

Aber vielen scheint das erst einmal egal: Hauptsache, Nahles sei weg, gerade die Basis rebelliere nach vielen als peinlich empfundenen Auftritten. Über Sigmar Gabriel habe man sich oft geärgert, aber man habe sich nie für ihn geschämt, wird betont.

Die Lage wirkt derart planlos, dass es auch für die große Koalition eng werden könnte. Denn in der sehen inzwischen viele Sozialdemokraten das Grundübel, da das Profil immer weiter verwässere. Und dass nun Kanzlerin Angela Merkel (CDU) bei ihrer Rede an der US-Eliteuniversität sozusagen das Copyright bekam für die historische Leistung, einen bundesweiten Mindestlohn einzuführen, das empfinden viele SPD-Leute als Höchststrafe – aber es passt gerade irgendwie ins Bild.

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