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Andrea Nahles verlässt die SPD-Zentrale in Berlin

© AFP/Tobias SCHWARZ

Drama in sechs Akten: Der Nahles-Abgang und die Folgen

Andrea Nahles geht – Malu Dreyer,  Manuela Schwesig und Thorsten Schäfer-Gümbel kommen. Aber wie bloß kann es bei den Sozialdemokraten weitergehen?

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Akt 1: Der Abgang

Um 10.47 Uhr ist es endgültig vorbei. „Ich bin zurückgetreten“, sagt Andrea Nahles nach Verlassen des Parteivorstands. Sie geht erhobenen Hauptes, dankt draußen vor dem Willy-Brandt-Haus den Journalisten für die jahrelange Begleitung. „Machen Sie’s gut“, sind ihre letzten Worte. Dann steigt Nahles in ihren Wagen. Die Vorsitzende Nummer 17 seit 1946 ist Geschichte. Sie will sich komplett von der Berliner Bühne zurückziehen und auch nicht mehr Bundestagsabgeordnete sein. „Es ist brutal“, kommentiert ihr Umfeld die letzten Tage. Zumindest verlässt die Tochter eines Maurers die SPD-Zentrale durch den Vorderausgang, das war bei anderen Stürzen und Rücktritten auch schon einmal anders. 

Schon früh am Morgen waren Blumensträuße in die Parteizentrale getragen worden. Vor den Mikrofonen fordern nacheinander Katja Pähle für die SPD Sachsen-Anhalt, Sachens SPD-Chef Martin Dulig und Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller es müsse eine Doppelspitze wie bei den Grünen her. Pähle berichtet zudem von einem Beschluss ihres Landesverbands, dass die SPD die große Koalition verlassen soll – spätestens per Beschluss auf dem vorgezogenen Parteitag, der bis September stattfinden soll.

Die Schalte fand aber ohne Landeschef Burkhard Lischka statt, der die Groko nicht aufkündigen will, ein Spiegelbild der Konfusion. Bundesaußenminister Heiko Maas schlägt dem 45-köpfigen Vorstand  eine Doppelspitze vor, die per Urwahl durch die Mitglieder gewählt werden soll. „Die Zeit der Hinterzimmer muss endlich vorbei sein. Wir brauchen eine neue Parteispitze, die eine möglichst breite Unterstützung unserer Mitglieder hat.“ Die Entscheidungen über Doppelspitze, Mitgliederbefragung den Parteitagstermin wurde auf den 24. Juni vertagt. Denn nach dem Abschuss von Nahles wurde intern betont: Bitte keine Schnellschüsse.

Akt 2: Die Rückkehr der Troika

Bis es eine dauerhafte Nachfolge gibt, kommt es zur mehrmonatigen Rückkehr der Troika, beschloss der Vorstand am Montag. Damit hat die SPD gemischte Erfahrungen gemacht, bisher war sie immer männlich: Brandt, Wehner und Schmidt; Lafontaine, Scharping und Schröder; Gabriel, Steinmeier und Steinbrück. Nun lautet das Übergangs-Trio Malu Dreyer, Manuela Schwesig, Thorsten Schäfer-Gümbel. Alle drei werden sich nicht um den Parteivorsitz bewerben, betont Schwesig.

Dreyer gilt als Vorsitzende des Herzens in der SPD. Seit sechs Jahren ist sie Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz, übernahm dieses Amt damals von Kurt Beck. Zur stellvertretenden Bundesvorsitzenden der Partei wurde die 58-jährige Politikerin im Dezember 2017 gewählt. Sie wurde immer wieder genannt, wenn es um den Posten der Parteichefin ging. Doch eine chronische Erkrankung schränkt ihre Möglichkeiten ein. Dreyer leidet an Multipler Sklerose. Dauerhafte Parteichefin will sie deshalb nicht werden.

Manuela Schwesig (M), Malu Dreyer (r), und Thorsten Schäfer-Gümbel führen die SPD kommissarisch. 
Manuela Schwesig (M), Malu Dreyer (r), und Thorsten Schäfer-Gümbel führen die SPD kommissarisch. 

© Michael Kappeler/dpa

Schwesig ist mit 44 Jahren die jüngste unter den Interims-Parteichefs. Vor fast zwei Jahren übernahm sie das Amt der Ministerpräsidentin in Mecklenburg-Vorpommern. Zuvor hatte sie als Bundesfamilienministerin (seit 2013) die Gesellschaftspolitik der SPD mitgeprägt. Die Diplom-Finanzwirtin wurde in Brandenburg geboren, begann ihre politische Karriere in Schwerin. In einem Jahr mit drei Landtagswahlen in den neuen Ländern dürfte sie als Interessenvertreterin des Ostens in der SPD gefragt sein.

Wirklich nur für den Übergang wird der als ehrlicher Sozialdemokrat geschätzte Schäfer-Gümbel angesehen, er hat seinen Rückzug nach drei verlorenen Landtagswahlen in Hessen für den Herbst schon angekündigt  - im Oktober will er als Vorstandsmitglied zur staatlichen Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GiZ) wechseln.  Der Hesse gehört dem Parteivorstand seit 2009 an, seit 2013 ist er Parteivize. An der Spitze der Bundestagsfraktion soll der Außenpolitiker Rolf Mützenich das Amt von Nahles kommissarisch übernehmen. In Zeiten, wo die große Koalition eigentlich dringend etwas liefern muss, wird es für Merkel und CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer komplizierter, den richtigen Ansprechpartner zu finden. Statt einer Person (Nahles) gibt es erst einmal vier – plus Vizekanzler und Finanzminister Olaf Scholz.

Akt 3: Die Kunst der Zuversicht

Auf einer Autofahrt lag neben Nahles, wenige Tage vor der Wahl zur ersten Vorsitzenden in der Geschichte der deutschen Sozialdemokratie, das Buch „Hector und die Kunst der Zuversicht“ von François Lelord. Es handelt von einem Mann, der an seinem Leben zweifelt, eine Krise nach der nächsten. So beschließt er, alte Freunde um Rat zu fragen, um neue Zuversicht zu schöpfen, eine philosophische Reise zu den Quellen des Glücks. Ein Kapitel heißt übrigens „Die Nacht der Zombieschweine“. Alles in allem wirkt es wie eine Parabel auf sie und die SPD.

Heute mehr denn je. Koalition, Erneuerung, Einbinden der Basis. Es ist ein Höllenritt. Ihre Magisterarbeit schrieb die Germanistin Nahles einst über die "Funktion von Katastrophen im Serien-Liebesroman". An Katastrophen mangelte es auch in der kurzen Zeit als Vorsitzende nicht. Eigentlich wollte Nahles damals ihre kleine Tochter mit nach Berlin holen, kurz vor ihrer Wahl zog der Ex-Partner sein Einverständnis zurück – das Kind blieb in der Eifel, Nahles musste hin- und herhetzen.

Lob gab es selten, zuletzt wurde sie weggemobbt. Doch im Willy-Brandt-Haus betonen einige auch, man solle jetzt nicht einen Opfermythos kreieren – es gehe auch nicht um ein Frauenproblem, auch Männer wie Kurt Beck oder Martin Schulz können einiges zum nicht zimperlichen Umgang mit Parteivorsitzenden der SPD sagen.

Und auch Nahles konnte austeilen – an den Stürzen von Rudolf Scharping 1995 und Franz Müntefering 2005 war sie beteiligt, als Parteichefin umgab sie sich mit Vertrauten, man schämte sich für einige Auftritte. Nun betonen auch die, die an der Demontage mitgewirkt haben: Wir schämen uns dafür. Es ist auch diese Doppelmoral, die der für Solidarität eintretenden SPD weiteres Vertrauen kostet.

Akt 4: Gift und Galle

Wenn noch irgendwer auf ein Comeback des vielleicht talentiertesten Sozialdemokraten gesetzt haben soll, hat ihn spätestens folgender Satz erledigt: „Die SPD braucht eine Entgiftung“, sagte Sigmar Gabriel zum Nahles-Rücktritt als Partei- und Fraktionsvorsitzende. Yasmin Fahimi, die von Gabriel einst zu seiner Generalsekretärin gemacht wurde, kommentiert den Gabriel-Satz so: „Ich bin entsetzt über so viel Mangel an Anstand und Unfähigkeit sich selbst den Spiegel vorzuhalten. Von Entgiftung faseln und dabei Gift verspritzen. Geht‘s noch?!“

Denn wenn einer Nahles immer wieder beschädigt hat und als erster nach dem Europawahldebakel mit 15,8 Prozent der Stimmen offen personelle Konsequenzen forderte, war es Gabriel. „Was für ein Arschloch“, meint eine SPD-Frau am Willy-Brandt-Haus. Aber auch über die Taktierer in der Fraktion, die mit Putschgerüchten spielten, aber nicht sprangen, wie Achim Post und Martin Schulz, entlädt sich Zorn. Es war Nahles kapitaler Fehler, die Nerven zu verlieren und die Machtfrage durch die vorgezogene Neuwahl des Fraktionsvorsitzes klären zu wollen – dadurch war die Personalfrage gestellt und rasch zu beantworten.

Als ihr klar war, dass sie sich verzockt hatte und der Rückhalt nicht mehr da war, schrieb sie in der Rücktrittsmail: „Bleibt beieinander und handelt besonnen.“ Mal sehen, ob das beherzigt wird.

Akt 5: Die Wegducker

Olaf Scholz will zwar gerne Kanzlerkandidat werden, „natürlich“ werde die SPD einen aufstellen, auch wenn es noch weiter nach unten geht. Aber den Vorsitz will er nicht. „Ich halte das mit dem Amt des Bundesministers der Finanzen zeitlich nicht zu schaffen“, sagte er bei „Anne Will“. Vielleicht ist das auch ein Symptom der Krise. Das hört sich taktisch und vorgeschoben an, warum sagt Scholz nicht, dass er kein Parteiliebling ist und Sorge haben müsste, bei einer Urwahl durchzufallen? Kanzlerin Angela Merkel war 13 Jahre lang neben dem Amt der Kanzlerin auch CDU-Vorsitzende.

Ein anderer, Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil winkt auch ab, um nach der kommissarischen Troika sich um den Vorsitz zu bewerben: „Ich bin und bleibe furchtbar gerne Ministerpräsident aus Niedersachsen und habe keine anderen Ambitionen“, sagte er im NDR. So gibt es vorerst kein klares Machtzentrum, niemand drängt sich um Führung. Und überall drohen weitere Mandatsverluste, der Glaspalast des Willy-Brandt-Hauses wirkt wie aus der Zeit gefallen, wie eine eigene Parallelwelt. Oft kreist man zu sehr um Randthemen, verheddert sich in Stückwerk, und verliert die wahren Nöte der Bürger aus dem Blick, sei es bei den Mieten oder der Angst, das der eigene Arbeitsplatz durch Maschinen ersetzt werden könnte. Und die Einkommensschere klafft weiter auseinander.

Akt 6: Die programmatische Leere

Obwohl die SPD sozialdemokratische Herzensprojekte wie den Mindestlohn oder milliardenschwere Programme zur Eingliederung von Langzeitarbeitslosen durchgesetzt hat, erklärt eine Mehrheit in Umfragen, die Union habe in dem Bündnis mehr erreicht. Erfolge wurden der SPD bei Wahlen und in Umfragen nicht zugerechnet. Teile der Partei, darunter Juso-Chef Kevin Kühnert, akzeptierten das Ergebnis der Mitgliederbefragung zur großen Koalition nicht und bereiteten mit immer neuen Forderungen an die Union den Ausstieg aus dem Regierungsbündnis vor.

Die eigenen Erfolge rückten in der Wahrnehmung in den Hintergrund, wurden medial von neu aufgestellten Forderungen übertroffen. Obwohl Parteitage alle wesentlichen Entscheidungen verabschiedeten, fühlte sich ein Teil der SPD-Basis verraten und pflegte fortan eine ausgesprochene Misstrauenskultur gegen die eigene Führung. In der Krise verengte die Parteiführung um Nahles zunehmend das Profil, versuchte nicht mehr, die Mitte der Gesellschaft anzusprechen. Mit dem Abschied von Hartz IV sowie der Grundrente ohne Bedürftigkeitsprüfung entschied sie sich für einen deutlich linkeren Kurs, für den Vizekanzler Olaf Scholz sogar Kratzer an seinem Anspruch hinnahm, ein grundseriöser Verwalter des Steuergeldes zu sein.

Doch auch der Linkskurs wurde bei Wahlen nicht honoriert, von vielen nur noch als taktisch und nicht mehr als authentisch angesehen. Vor der Europawahl fehlte der SPD ein Narrativ, um sich in der aufflammenden Debatte um die Klimakrise zu behaupten. Zwar sorgte SPD dafür, dass ein gesellschaftlich breit abgestimmter Plan zum Ausstieg aus der Kohleförderung sowie zum Strukturwandel vorgelegt und in der Regierung ein „Klimakabinett“ gebildet wurde, doch nach außen ließen sich diese Zwischenschritte nicht kommunizieren. Immer wieder heißt es: Es fehlt die große Idee, der klare Kurs - die Partei wirkt ratlos. Nun werden wieder mal Köpfe ausgetauscht. Happy End fraglich.

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