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Ein Mundschutz hängt an einem Schülertisch.

© imago images/Michael Weber

Diskussion um Klassen-Quarantäne: Die Kapitulation der Berliner Amtsärzte

Ist es „im Interesse“ der Kinder, sie in eine Klasse zu schicken, in der sie mit womöglich infizierten Sitznachbarn den Tag verbringen müssen? Ein Kommentar

Gut gemeint ist nicht immer gut. Das gilt auch für die Übereinkunft der Berliner Amtsärzte, die Quarantäneregelung, wie sie das Robert-Koch-Institut für enge Kontaktpersonen von Corona-Infizierten ausdrücklich empfiehlt, an den Schulen und Kitas Berlins ab sofort komplett fallenzulassen.

Damit müssen etwa Sitznachbarn nicht mehr 14 Tage zuhause bleiben. Das sei im Interesse der „großen Gruppe der Kinder“ und nötig aufgrund der „sozialen und psychologischen Folgen einer Quarantäne“, wie es der Reinickendorfer Amtsarzt Patrick Larscheid dem Tagesspiegel sagte.

Aber ist es das wirklich?

Ist es „im Interesse“ der Kinder, sie in eine Klasse zu schicken, in der sie stundenlang mit womöglich infizierten und infektiösen Sitznachbarn verbringen müssen?

Ist es im Interesse ihrer Familien, in denen es womöglich vorerkrankte oder nicht impfbare Angehörige gibt, die sich nun umso mehr sorgen müssen, mit dem Virus in Berührung zu kommen?

Ist es tatsächlich im „bevölkerungsmedizinischen“ Interesse, die Ausbreitung einer noch immer in weiten Teilen unerforschten, nachweislich Langzeitschäden auslösenden Infektionserkrankung in Kauf zu nehmen und eine der wirkungsvollsten nicht-medizinischen Eindämmungsmaßnahmen, die Quarantäne, nicht mehr zu nutzen?

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Zwar ist es richtig, wie die Amtsärzte schreiben, dass „soziale Isolation, verpasste Bildungschancen und fehlende Bewegung auch bevölkerungsmedizinische Relevanz haben“. Und es ist gut, dass sich die Amtsärzte ihrer Pflicht bewusst sind, auch diese Folgen ihres Tuns zu bedenken. Doch dann heißt es weiter: „Dieses „Long-Covid-Syndrom“ betrifft auch ohne Infektion uns alle, aber Kinder ganz besonders.“ Menschen, auch Kinder, die am „Long-Covid-Syndrom“ erkrankt sind, dürften über diese bagatellisierende Gleichstellung des tatsächlichen Long-Covid-Syndroms mit den psychologischen Folgen einer zweiwöchigen Zwangspause von der Schule zu recht empört sein.

Der Satz klingt jedenfalls nicht danach, als hätten sich die Amtsärzte wirklich damit auseinandergesetzt, wie oft selbst milde Verläufe von Coronavirus-Infektionen noch Wochen und Monate danach die Patienten beeinträchtigen können. Und haben sie sich wirklich hinreichend mit den Hinweisen aus ersten Studien beschäftigt, nach denen die Deltavariante nicht nur ansteckender, sondern auch mehr schwerere Verläufe, gerade bei Kindern, auslöst?

In den USA, in denen die vierte Welle schon länger anrollt als bei uns und die Zahlen der coronainfizierten Kinder, die in Krankenhäuser eingeliefert werden müssen, drastisch ansteigt, kommen die Kinder- und Jugendärzteorganisationen zu einem gänzlich anderen Schluss als die vergleichbaren Organisationen in Deutschland, mit denen sich die Berliner Amtsärzte im Einklang sehen. Während hierzulande das Risiko für die Kinder kleingeredet wird, drängen die US-Kollegen darauf, so viele Infektionen von Kindern wie irgend möglich zu verhindern, fordern bessere Schutzmaßnahmen in den Schulen, Quarantäneregeln zu lockern ist kein Thema.

Drosten-Vorschlag der verkürzten Quarantäne abgelehnt

Unverständlich ist auch, warum die Amtsärzte nicht dem Vorschlag des Charité-Virologen Christian Drosten, mit dem sie Larscheid zufolge in engem Austausch stünden, gefolgt sind. Der hatte eine verkürzte Quarantäne von fünf Tagen für Kinder vorgeschlagen – was sich wegen des meist kurzen Verlaufs von Covid-Infektionen bei Kindern und der dadurch auch nur kurzen Phase der Infektiosität wissenschaftlich auch begründen lässt.

[Lesen Sie auch: Die (vermeidbare) Zukunft der Pandemie: Ende Oktober könnte es 128.000 Neuinfektionen geben (T+)]

„Wir kennen den Standpunkt von Herrn Drosten“, sagte Patrick Larscheid dem Tagesspiegel, „und haben Respekt davor, wenn sich ein Kollege aus der theoretischen Medizin, der keine Verantwortung für die Umsetzung solcher Dinge tragen muss, sich so äußert.“ Dennoch kommt Larscheid zu einem anderen Schluss, wertet den „familienmedizinischen“ Schaden selbst kurzzeitigen „Herausreißens aus den Lerngruppen“ im bevölkerungsmedizinischen Sinne höher als die Folgen einer Coronaerkrankung.

Andere Maßnahmen, die den Wegfall der Quarantäne vielleicht nicht ersetzen, aber die Gefahr einer „Durchseuchung“ der Klassen minimieren könnten, nennen die Amtsärzte nicht: Weder wird tägliches Testen der gesamten Klasse nach der Diagnose eines ersten Falls oder das Anordnen der verlässlicheren und sensitiveren PCR-Tests vorgeschlagen, ob nun einzeln oder im „Pool“-Verfahren.

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Ebensowenig empfehlen die Amtsärzte als Bedingung für das Wegfallen der Quarantäne, die Präsenzpflicht nach Diagnose eines ersten Falls in einer Klasse aufzuheben, damit Eltern ihre individuelle familiäre Risikosituation berücksichtigen und ihr Kind gegebenenfalls zuhause lassen können.Nichts dergleichen. Stattdessen heißt es, dass ohnehin davon auszugehen sei, dass Kinder unter 12 Jahren sich früher oder später infizieren.

„Das werden wir nicht verhindern können“, sagte Larscheid dem Tagesspiegel, „weil wir das dafür nötige Schulsetting nicht aufrechterhalten können und das auch aus infektiologischer Sicht nicht wollen, dass Ansteckungen völlig vermieden werden.“

Die Amtsärzte kapitulieren

Die Amtsärzte, deren Aufgabe in einer Pandemie zuallererst der Infektionsschutz der Bevölkerung sein muss, kapitulieren – und das zu einem Zeitpunkt, an dem sich in Deutschland eine Corona-Variante zu vermehren beginnt, die in anderen Ländern bereits mehr Kinder denn je in dieser Pandemie in die Kliniken gebracht hat. Der Alleingang ist auch langfristig bedenklich – gesundheitspolitisch und in Bezug auf eine Neuordnung der Pandemieprävention nach der Corona-Krise.

Denn dass sich die Berliner Amtsärzte offen über die Handlungsempfehlungen des Robert-Koch-Instituts, der bislang von den Gesundheitsbehörden bundesweit anerkannten Instanz, hinwegsetzen, ist ein ungutes Signal. Statt mit dem RKI gemeinsam um eine praktikable, sowohl den infektionsmedizinischen und epidemiologischen Belangen als auch den psychomedizinischen Bedürfnissen von Kindern genügenden Lösung für ganz Deutschland zu ringen, meinen die Berliner Amtsärzte allein die richtige, die bessere Lösung gefunden zu haben.

Das öffnet Tür und Tor für einen Flickenteppich aus unterschiedlichen lokalen Regelungen, die niemand mehr nachvollziehen kann. Und es ist kein gutes Omen für die dringend nötige Debatte, wie die Pandemieprävention in Deutschland künftig neu und besser geregelt und ob das RKI mehr, über Empfehlungen hinausgehende Befugnisse bekommen muss, damit die Menschen in diesem Land vor der nächsten Pandemie, die sicher kommen wird, besser geschützt werden können.

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