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Ein Mann, ein Buch, eine Kritik. Der Thinktank-Direktor Roland Freudenstein hat an Robert Menasses Roma "Die Hauptstadt" einiges auszusetzen.

© dpa

Die Zukunft von Europa: Wie Robert Menasse Europa kaputtschreibt

Robert Menasses „Die Hauptstadt“ ist kein Roman, es ist ein Manifest. Ein absurdes. Dass es in Deutschland zum Beststeller wurde, macht mich fassungslos. Eine politische Kritik.

Ceci n'est pas une pipe, schrieb Belgiens Surrealist René Magritte einst unter eine Pfeife, die er gemalt hatte. Denn es handelte sich nur um das Bild, nicht um die Pfeife selbst. Ceci n'est pas un roman, könnte man als Untertitel unter Robert Menasses preisgekröntes literarisches Werk „Die Hauptstadt“ schreiben. Denn es handelt sich nicht um einen Roman, sondern um ein politisches Manifest. Daran muss es sich messen lassen. Ich möchte hier deutlich machen, was dieses Manifest ausmacht – und warum ich Menasses Thesen ablehne, ja regelrecht fassungslos bin, dass das Buch zu einem gefeierten Bestseller im deutschsprachigen Raum werden konnte.

Seit Wochen rangiert es unter den Top10 der Literatur. Im Oktober erhielt es den Deutschen Buchpreis. Die Handlung verfolgt ein Set Brüsseler Figuren: Einen belgischen Holocaust-Überlebenden im Seniorenheim, einen Professor und einen Schweinezüchter aus Wien, einen belgischen Polizeikommissar, einen katholischen Killer aus Polen und jede Menge EU-Beamte. Die EU-Beamten treibt die Frage um, wie die Europäische Kommission in Brüssel am sinnvollsten den sechzigsten Jahrestag ihrer Gründung feiern sollte. Die sympathischeren Protagonisten wollten eine Feier in Auschwitz organisieren. Diese Idee wird von den Spielverderbern – also den Bremsern in Brüssel und den Mitgliedstaaten – kunstvoll torpediert. Eingebettet ist die politische Handlung in einen Krimiplot. Am Anfang steht ein Mord, am Ende ein Terroranschlag, in der Mitte eine den Kontinent umspannende Verschwörung.

Beginnen wir mit dem Positiven: Das Buch ist unterhaltend, Menasses Lebensläufe von EU-Beamten sind glaubhaft, seine Beschreibungen des Europaviertels und des sehr wichtigen Brüsseler Zentralfriedhofs gut gemacht und natürlich für „Brüssel-Europäer“ wie mich besonders interessant. Dazu zahllose Bonmots und treffende Beobachtungen. Anerkennenswert ist schließlich auch Menasses Versuch, die Europäische Union quasi in Romanform zu gießen.

Die Botschaft? Nationalismus endet zwangsläufig im Holocaust

Nun aber zum politischen Inhalt. Menasses zentrale Botschaft lautet: Nationalismus endet zwangsläufig im Holocaust und die einzig richtige Schlussfolgerung ist die Überwindung der Nationen in einem europäischen Staat, der auf den Grundrechten seiner Bürger basiert und dessen Avantgarde die Europäische Kommission in Brüssel ist. Oder: Die einzig passende Antwort auf Auschwitz ist die Europäische Republik! Genau das hat auch die Politikwissenschaftlerin und Publizistin Ulrike Guerot 2016 und 2017 in zwei Büchern gefordert: ein Markt, eine Währung, eine Demokratie – und sei es um den Preis eines Bürgerkriegs, zumindest metaphorisch gesprochen. Nun könnte man einwenden, die passendste Antwort auf Auschwitz sei ein wehrhafter jüdischer Nationalstaat – Israel – aber das ist eine andere Debatte.

Menasse poliert eine aus gutem Grund aus der Mode gekommene Formel auf: „Mehr Europa!“ als Antwort auf alle Probleme des Kontinents – und krönt sie mit der Forderung nach einem einheitlichen Staat. Dass man Nationen in Europa weder einfach abschaffen kann noch sollte, kontert er mit der Feststellung, schließlich habe man auch die einst vermeintlich gottgegebene Sklaverei abgeschafft. Das ist vordergründig ein schlauer Konter. Es ist aber auch absurd. Der europäische Nationalstaat ist ein Kind der Aufklärung. Er hat – in diesem Punkt gleicht er der Religion – in den letzten 300 Jahren in den Menschen Europas das Beste ebenso wie das Schlimmste hervorgebracht. Er hat auch alle Versuche, ihn obsolet zu machen, recht gut überstanden, vom marxistischen Internationalismus bis zu panslawischen oder anderen ethnischen Bewegungen. Mir scheint das Argument eher plausibel, dass der Versuch einer Abschaffung der Nationen Europas erst Recht zu nationalem Populismus und zum Auseinanderbrechen der Union führen würde. Der Journalist Thomas Schmid hat als Reaktion auf Ulrike Guerot einmal geschrieben, manchmal müsse man Europa auch vor seinen Freunden beschützen. „Weniger Europa ist in Wirklichkeit mehr Europa“, schrieb Schmid. Ich kann das nach eineinhalb Jahrzehnten Brüssel nur voll bestätigen. Dass die EU-Verträge die Nationalstaaten einhegen, statt sie abzuschaffen, sehe ich letztlich eher als das Erfolgsgeheimnis Europas, und nicht als Makel.

Mit Menasses Plädoyer für schuldenfinanzierte Umverteilung zur Lösung der Probleme der Eurozone bin ich zwar nicht einverstanden, aber das ist eine legitime Meinung. Er dagegen betrachtet alle, die anders denken, als „Lobbyisten“, die am Gemeinwohl gar nicht interessiert sein können.

Menasse bietet nur ein fest geschlossenes, links-westeuropäisches Weltbild

Darüber hinaus disqualifiziert sich Menasse aber auch mit seiner bizarren Romanfigur des christlichen Killers. Am Anfang der Geschichte begeht er einen Mord, seine Flucht quer durch Europa zieht sich durch das ganze Buch. Dieser polnische „Soldat Christi“ ist verwurzelt in der tragisch-aufständischen Tradition seiner Vorfahren und handelt als Mitglied einer Sekte, die in den Katakomben des polnischen Klerus angesiedelt ist und im Zusammenspiel mit der Nato (ja, Sie lesen richtig!) „vorbeugend“ potenzielle Terroristen umbringt. Ganz in der Tradition des klassischen Verschwörungs-Thrillers, wird die polizeiliche Untersuchung des Mordes dann „von höchster Stelle“ gestoppt und alle Spuren vernichtet.

Wenn sich Dan Brown solche Dinge ausdenkt, kann man das als Spannungsliteratur abtun. Bei Robert Menasse dagegen hat der Wahnsinn Methode und eine politische Funktion, denn er ist integraler Bestandteil seines Manifestes.

Hier mischen sich antiamerikanische Ressentiments mit einer Dämonisierung von Teilen Mitteleuropas und politisch korrektem Appeasement gegenüber dem Islamismus. Menasse hat die Figur des klerikalen Killers offenbar vor allem deshalb eingeführt, um klar zu machen, dass nicht immer Muslime religiös motivierte Gewaltakte begehen. Es gibt aber nun mal keine kirchlichen Killer, zumindest seit ein paar Jahrhunderten nicht, weder in Brüssel noch anderswo in Europa. Dafür aber jede Menge dschihadistischer Terroristen, in den letzten Jahren auch in Molenbeek, einem Brüsseler Stadtteil. Einen Terroranschlag aber schiebt Menasse nur lustlos auf den letzten Seiten ein. Alles, was im wirklichen Leben relevant ist – an polizeilicher Schlamperei, falsch verstandener Toleranz und fataler Multikulti-Ideologie - und heute nun einmal einen beträchtlichen Teil der Brüsseler Realität ausmacht, kommt bei Menasse nicht vor.

Robert Menasse täuscht Offenheit vor und bietet doch letzten Endes ein fest geschlossenes, links-westeuropäisches Weltbild. Dessen Kritiker mögen ihm Ärgernis oder sogar existenzielle Bedrohung sein. Aber moralisch legitim sind sie in seinen Augen allesamt nicht. Auch so kann man Europa kaputt schreiben.

- Der Autor ist politischer Direktor des Wilfried Martens Centre for European Studies, der Denkfabrik der Europäischen Volkspartei in Brüssel. Er arbeitete in den 90er Jahren in der EU-Kommission und lebte sieben Jahre in Warschau, bevor er 2004 nach Brüssel zurückkehrte.

Roland Freudenstein

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