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Wird man sich künftig bei der Begrüfung noch umarmen, gar küssen, wie es hier US-Präsident Obama und Kanzlerin Merkel 2013 tun?

© DPA/Michael Kappeler

Die Welt nach dem Virus wird eine andere sein: Soziale Distanzierung wird zum Habitus werden

Das Coronavirus hat eine neue Diskussion über über Lebenshaltung und Lebensart ausgelöst. Wie werden wir künftig miteinander umgehen?

Wer kennt sie noch: Erica Pappritz? Sie war in der Ära Adenauer, im vorigen Jahrhundert, stellvertretende Protokollchefin im Auswärtigen Amt. In den 1950er und 1960er Jahren löste sie eine Diskussion über die Etikette aus. Das war eine in der sogenannten Bonner Republik.

Nun ist die Republik längst eine Berliner, und die Frage, wie lange und wie oft die Toilettenspülung betätigt werden darf, keine mehr. Wie auch die, ob es unmännlich ist, lange Unterhosen zu tragen, selbst wenn man sie nicht sieht.

Doch beginnt gerade eine neue Diskussion über Habituelles, über Lebenshaltung und Lebensart. Und diesmal ist der Auslöser niemand, der belächelt wird wie damals in Teilen „die Pappritz“ (außer in den „feinen Kreisen“), sondern ein Virus. Darüber lacht niemand.

Weil viele ahnen, dass die Welt nach dieser Krise eine andere sein wird. In wahren Wortsinn grundlegend anders.

Das, was wir Gepflogenheiten nennen, wird dann perdu sein. Die soziale Distanzierung wird zum Habitus werden. Auch zum körperlichen.

Alles wird körperloser, virtueller, Avatar-mäßiger

Wo früher nur die Frage war, in welcher Weise Mann oder Frau einander die Hände schütteln, ob mit Handschuh oder ohne, ob sanft oder fest, oder wann und wo und wie ein Handkuss gegeben werden darf, entfällt das heute. Einfach so. Und, vermisst es jemand?

Alles das, was aus dem 19. Jahrhundert in dieses hinüber ragt – so etwas wie, bei der Begegnung den Anderen auch einmal zu umarmen – wird nach dieser Zeit langsam auf der Strecke bleiben. Körperloser, virtueller, Avatar-mäßiger wird es werden.

Und weil der Staat handelt, wie er handelt, modern und gleichzeitig zunehmend repressiv in den Sphären des Privaten, wird es auch einen Digitalisierungsschub geben müssen. Denn Beharrungskräfte von Online-Verweigerern funktionieren nun nicht mehr, sie scheitern an der Wirklichkeit. Zumal soziale Distanz muss digital überwunden werden.

So ändern sich dann also äußeres und inneres Outfit. Äußeres, weil Konventionen den Situationen folgen müssen und nicht Menschen den Konventionen. Das streng Gescheitelte, um es mit diesem Bild zu sagen, weicht einer neuen Form von Leichtigkeit, auch von Erleichterung. Wozu Kostüm oder Krawatte, wenn das Gegenüber im Chat das womöglich gar nicht sieht und anderes im Kopf hat?

Künftig müssen die Behörden ihre Praxis begründen, zu jeder Zeit

Auch das Verhältnis zur sogenannten Obrigkeit wird einer neuen - politischen - Etikette folgen. Ein Beispiel: Nicht der Einzelne muss sein Anliegen begründen, um einen Termin zu erlangen, sondern Behörden müssen ihre Praxis begründen, zu jeder Zeit. Zumal gerade immer mehr nach dem Staat rufen, muss der seine Funktionsfähigkeit und Funktionalität prüfen.

Die neuen Regeln haben somit noch am Rande mit Pappritz und „Knigge“ zu tun, oder genauer: mit dem, was aus „dem Knigge“ gemacht wurde - ein Buch mit Benimmvorschriften. Ursprünglich war der das gar nicht. Vielmehr hat Adolph Freiherr Knigge im Jahr 1788 „Über den Umgang mit Menschen“ geschrieben. Es war eine Aufklärungsschrift und keine Gebrauchsanleitung fürs Besteck in feiner Gesellschaft. Sondern ein Ratgeber für Höflichkeit und Takt im Umgang mit „Leuten von verschiedenen Gemütsarten, Temperamenten und Stimmungen des Geistes und Herzens“, mit Eltern, Kindern, Eheleuten, Verliebten, Nachbarn, Fürsten, Geistlichen.

Heute müssen Benimmregeln den Test darauf bestehen, in Extremsituationen zu funktionieren. Gut zu sehen am Fall des richtigen Umgangs mit dem Niesen. Bei Knigge und Pappritz war es noch üblich, in die linke Hand zu niesen, sollte es für das Zücken eines Taschentuchs zu spät sein, weil man dem Gesprächspartner am Schluss der wieder die (rechte) Hand schütteln muss. Beides ist heutzutage überholt.

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