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Jubel dicht an dicht: Englische Fußballfans beim 2:0-Sieg gegen Deutschland in Wembley

© Imago/PA Images/Nick Potts

Die Suche nach einer neuen Normalität: Die Empörung über EM-Spiele und Flugreisen ist überzogen

Wie kann der Alltag mit Corona aussehen? Gut gefüllte Fußballstadien und Großkonzerte sind dafür ein wissenschaftlich begleitetes Experiment. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Die Wellen der Empörung schlagen hoch: Was erlauben sich Engländer, Ungarn, Rumänen? Zehntausende Zuschauer dicht an dicht in den Stadien in London, Budapest, Bukarest – das sei unverantwortlich. Aus Geldgier mache die Uefa die Fußball-EM zu einem Superspreader Event, lautet der Vorwurf.

Wir Deutsche sind da vorsichtiger. In München durften nur 14.000 ins Stadion. Sicherheit hat Vorrang vor Lustbarkeiten.

Parallel haben in Berlin die großen Ferien begonnen. Die Menschen sehnen sich nach unbeschwertem Urlaub. Bei der Auswahl des Reiseziels spielt Sicherheit vor Ansteckung auch eine Rolle. In den Umfragen rangieren andere Motive vorn: Strand, Sonne, Erholung, Spaß.

Über 80 Prozent wollen verreisen, viele auch außerhalb Europas. Zur Erwartung an den Urlaub gehört die vor Corona gewohnte Lockerheit: offene Restaurants, Bars, Sport- und Kulturstätten, Flirts.

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Draußen vor dem Stadion lauert die größere Gefahr

Deutschland, Europa und die Welt sind im zweiten Coronasommer auf der Suche nach der verlorenen Normalität. Ignorieren kann man das Virus nicht. Es wird bleiben. Menschen sind aber anpassungsfähig und testen, wie sie mit dem Virus leben können, ohne zu viel zu riskieren. „Trial and Error“ ist die Devise.

Die EM ist ein wissenschaftlich begleitetes Experiment, das kommt in der deutschen Debatte zu kurz. Forscher werten für die britische Regierung aus, wie sich die EM-Spiele, das Tennisturnier in Wimbledon, Business-Festivals und Massenkonzerte auf das Infektionsgeschehen auswirken.

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Belegen die Zahlen, dass EM-Spiele zu Massenansteckungen führen? In die Stadien dürfen nur Menschen mit Nachweisen, dass sie geimpft, getestet oder genesen sind. Da kann es zu Schlampereien und Mogeleien kommen. Einige Fans, die im Stadion waren, wurden positiv getestet. Als gefährliche Spreader Events haben sich aber eher die Menschentrauben von Fans ohne Tickets vor den Stadien und beim Public Viewing erwiesen. Nicht im Stadion sondern davor lauert das größere Risiko.

Generell sind organisierte Veranstaltungen mit Auflagen weniger riskant für die Gesellschaft als spontane Happenings. Das gilt auch für nächtliche Massenpartys in Parks in Berlin, Hamburg und anderswo. Niemand kontrolliert dort die Abstände, von Masken, Tests und Impfungen zu schweigen.

Kein Flug mehr ohne Test und Impfung wie 2020

Die wissenschaftlichen Erkenntnisse aus der EM und anderen Großveranstaltungen werden auch Deutschland bei der Planung helfen, wann und unter welchen Auflagen wieder mehr als 6000 Gäste in die 22.290 Zuschauer fassende Waldbühne dürfen und es große Rockkonzerte, Kongresse, Messen geben wird.

Die Reisesaison 2021 bringt ebenfalls Fortschritte. Es war beschämend, wie langsam Deutschland 2020 bei den Kontrollen an Flughäfen und Grenzen vorankam. Massen reisten ein, ohne erfasst zu werden, ohne einen Test vorzuweisen. Die vorgeschriebene Quarantäne wurde kaum kontrolliert. Wer heute fliegt, weiß: Das negative Testergebnis oder der Impfnachweis werden mit der Bordkarte beim Einsteigen überprüft und meist auch bei der Ankunft, noch am Gate.

Nach dem Terroranschlag mit gekaperten Flugzeugen auf das World Trade Center in New York hat die Menschheit nicht das Fliegen aufgegeben, sondern die Vorkehrungen verbessert. Angesichts der grausamen Zahl verunglückter Radfahrer und Fußgänger werden Ampelschaltungen verändert und wird der Straßenraum neu verteilt.

Mutig ausprobieren, was geht und was zu riskant ist

Der Verstand schützt Menschen nicht vor Fehlern und Sorglosigkeit bei der Risikobewertung. Sie lernen jedoch aus Fehlern, wenn auch oft quälend zögerlich. Zum Lernen gehört der Mut, auszuprobieren, was angesichts neuer Bedrohungen geht – und was zu riskant ist.

Ob 60.000 Zuschauer im Wembley-Stadien unverantwortlich waren oder 14.000 in München Folge überzogener Vorsicht, wird erst die wissenschaftliche Auswertung zeigen. Neugier und eine positive Haltung zu „Trial and Error“ sind unverzichtbar für die Suche nach einer neuen Normalität, die Lebensfreude erlaubt.

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