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Der britische Premier Johnson am Freitag bei seiner Ansprache vor seinem Amtssitz in der Downing Street.

© AFP

Die Stimmung entscheidet: Das sind die Lehren aus der Wahl zum britischen Parlament

Der britische Premier Johnson hat die Wahl deutlich gewonnen. Das hatte mit der eingängigen Botschaft „Get Brexit done" zu tun, aber es gab noch weitere Gründe.

Mit einer unerwartet deutlichen Mehrheit kann der britische Regierungschef Boris Johnson nach der Parlamentswahl weiterregieren. Der Triumph verdeutlicht, was passiert, wenn die größte Oppositionspartei keinen klaren Kurs verfolgt und die Wünsche der Wähler falsch einschätzt. Fünf Lehren lassen sich aus der Wahl ziehen:

Die Stimmung entscheidet

Immer wieder hat Premierminister Boris Johnson im Wahlkampf die einfache Formel „Get Brexit done“ wiederholt. Nach dem jahrelangen Gezerre soll der EU-Austritt nun endlich im kommenden Monat über die Bühne gebracht werden, lautete die Botschaft. Den Wählern versuchte Johnson dies mit dem einprägsamen Bild schmackhaft zu machen, dass der mit der EU ausgehandelte Austrittsdeal gewissermaßen „ofenfertig“ sei. Tatsächlich hatte der Premierminister im Oktober mit der EU einen Scheidungsvertrag ausgehandelt, der nun nur noch das Parlament passieren muss. Mit der absoluten Mehrheit, die der alte und neue Hausherr in der Downing Street nun hinter sich weiß, dürfte das kein Problem sein. Voraussichtlich Ende kommender Woche wird es im Parlament zur entscheidenden Abstimmung über den Austrittsdeal kommen.

Vor allem im Norden Englands und in den Midlands, wo viele Wähler beim EU- Referendum von 2016 mit Nein gestimmt hatten, kam Johnsons einfache Rhetorik an. Das gilt zum Beispiel für den Wahlkreis der Stadt Bolsover, wo der Bergarbeitersohn Dennis Skinner seit 1970 bisher stets für die Labour Party ein Direktmandat errungen hatte. Diesmal musste sich Skinner seinem langjährigen Rivalen Mark Fletcher von den Konservativen geschlagen geben. Fletcher erhielt in dem Wahlkreis 21 791 Stimmen, während der 87-jährige Skinner nur auf 16.492 Stimmen kam. Die einfache „Get Brexit done“-Botschaft hatte es leicht, weil sie auf eine weitverbreitete Stimmung traf. Da fiel es im Wahlkampf auch nicht weiter auf, dass sich Johnson kritischen Fragen verweigerte. Er flüchtete sich am Ende der Kampagne in Yorkshire in einen begehbaren Kühlschrank, als ihm ein Reporter unangenehme Fragen stellen wollte.

Stattdessen konzentrierte sich der Premierminister darauf, immer wieder ein paar leicht einprägsame Wahlkampfversprechen zu wiederholen: 50.000 zusätzliche Krankenschwestern sollen das Gesundheitswesen demnächst verstärken, 20.000 Polizisten sollen neu eingestellt werden und für mehr Sicherheit auf den Straßen Großbritanniens sorgen. So versuchte der 55- Jährige im Wahlkampf das Image des abgehobenen Eton-Absolventen abzuschütteln und den Eindruck zu vermitteln, dass er durchaus ein soziales Gewissen hat.

Die Labour Party verzettelte sich hingegen mit einer Vielzahl von politischen Botschaften. Sie reichten von einer Verstaatlichung der Eisenbahn über ein gebührenfreies Studium bis zu Steuererhöhungen für Vermögende. Der umstrittene Labour-Vorsitzende Jeremy Corbyn hatte zwar ähnlich wie Johnson ebenfalls einen einprägsamen Merkspruch parat: „For the many, not the few“ („für viele, nicht für wenige“). Die breite Masse erreichte er damit aber trotzdem nicht.

Ein Schlingerkurs ist nicht hilfreich

Beim Brexit, der sich als beherrschendes Wahlkampfthema herausstellte, machte der Labour-Vorsitzende Corbyn einen Kardinalfehler. Angesichts der Frage, ob er für einen Austritt oder für einen Verbleib in der EU ist, blieb Corbyn einfach auf dem Zaun sitzen. Er wollte bewusst keine Klarheit schaffen, um die traditionellen Anhänger im Norden Englands nicht zu verprellen. Aber Corbyns Strategie ging nach hinten los: Viele Brexit-freundliche Wähler aus dem traditionellen Labour-Lager ließen sich eher von Johnsons Kurs überzeugen.

Die Labour Party fiel bei der Wahl hinter ihr desaströses Ergebnis aus dem Jahr 1983 zurück. Damals kam die Partei unter ihrem unpopulären Vorsitzenden Michael Foot gerade einmal auf 209 der insgesamt 650 Sitze im Unterhaus. Die aktuelle Wahlschlappe der Labour Party zeigt, was passieren kann, wenn ein kleiner Kreis von Leuten in einer Parteizentrale die Stimmung abseits der Hauptstadt völlig falsch einschätzt. So gesehen erinnert die Revolte der Labour-Wähler an die SPD-Basis in Deutschland, die sich zur Überraschung der bisherigen Parteiführung mehrheitlich für Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken als neues Führungsduo aussprach.

Das Dilemma der Labour Party besteht darin, dass die Partei auch nach dem Debakel bis auf Weiteres von den Corbyn-Anhängern kontrolliert wird. Statt nach der Niederlage sofort zurückzutreten, strebt Corbyn nun einen sanften Übergang an. Der Labour-Vorsitzende will erst im kommenden Frühjahr eine Neuwahl an der Parteispitze herbeiführen. Damit überhört er geflissentlich Rufe nach einem sofortigen Rücktritt. Dies forderte beispielsweise die Labour-Abgeordnete Margaret Hodge, die ihren Sitz in London verteidigen konnte. „Die Menschen haben laut ,Nein‘ gesagt, und darauf müssen wir hören“, sagte sie zur Begründung.

Trotz des vorläufigen Festhaltens Corbyns am Parteivorsitz brachen schon am Freitag die Flügelkämpfe bei der größten Oppositionspartei aus. Als mögliche Nachfolger des 70-Jährigen gelten unter anderem der Brexit-Schattenminister Keir Starmer und die Abgeordnete Rebecca Long-Bailey. Während Starmer als gemäßigt gilt, gehört die Corbyn-Vertraute Long-Bailey der Parteilinken an.

Durchregieren geht nicht

Die Frage der schottischen Unabhängigkeit könnte für Johnson zur größten Herausforderung während seiner Amtszeit werden. Die Schottische Nationalpartei (SNP) ist neben den Konservativen der zweite Wahlsieger. Denn in Schottland holte die SNP 48 von 59 Mandaten. Dies entspricht einem Zugewinn von 13 Sitzen im Vergleich zur letzten Unterhauswahl im Jahr 2017. Nach dem Erfolg in der Region erneuerte die Erste Ministerin Schottlands, Nicola Sturgeon, ihre Forderung, dass Johnson den Weg für ein zweites Referendum über die Unabhängigkeit der Region frei machen müsse.

Bereits 2014 hatte ein Unabhängigkeitsreferendum stattgefunden, bei dem sich eine Mehrheit der Schotten gegen eine Loslösung von der Zentrale in London ausgesprochen hatte. Dies war allerdings vor der Volksabstimmung über die EU von 2016, bei der sich die Schotten dann mehrheitlich zugunsten der Europäischen Union aussprachen. Das Votum von 2016 und Johnsons harter Brexit-Kurs haben die Unabhängigkeitsbestrebungen der Schottischen Nationalpartei inzwischen massiv beflügelt. Allerdings ist offen, ob sich die Schotten bei einem neuerlichen Referendum tatsächlich für die Eigenständigkeit aussprechen würden.

Johnson stellt sich zwar auf den Standpunkt, dass mit dem schottischen Referendum vor fünf Jahren alles entschieden ist. Formell sitzt der Premierminister am längeren Hebel, denn er muss einer Wiederholung der Volksabstimmung zustimmen. Trotzdem wird der Premierminister nördlich des Hadrianswalls einiges an Überzeugungsarbeit leisten müssen, um den Schotten die wirtschaftlichen Vorteilen eines Verbleibs beim Vereinigten Königreich nahezubringen.

Die SNP-Vorsitzende Nicola Sturgeon lässt es hingegen auf eine Machtprobe mit Johnson ankommen. Damit ihre Region nach dem britischen EU-Austritt wieder in die Gemeinschaft eintreten kann, will die 49-Jährige noch vor Jahresende in London die Abhaltung eines zweiten Unabhängigkeitsreferendums beantragen. Auf diese Weise will sie dem Druck der SNP-Basis nachgeben, die mehr denn je auf eine Loslösung von London pocht. Falls die SNP bei der schottischen Parlamentswahl 2021 einen deutlichen Wahlsieg einfahren sollte, dürfte dieser Druck noch zunehmen.

Am Tag nach der Wahl zeigte sich indes, dass sich Sturgeon inzwischen bei Johnson einiges in Sachen Populismus abgeschaut hat. „Es geht nicht darum, Boris Johnson um Erlaubnis zu fragen“, sagte sie mit Blick auf die nötige Zustimmung Londons für ein zweites Referendum.

Das Land bleibt gespalten

Die Eindeutigkeit des Wahlergebnisses lässt die Tatsache vergessen, dass viele Briten für Parteien gestimmt haben, die den Brexit klipp und klar ablehnen. Das gilt einerseits für die schottische Nationalpartei SNP, der in Schottland ein Durchmarsch gelang und deren Stimmanteile in der gesamten Wählerschaft im neuen Parlament in Westminster sogar überproportional abgebildet sind. Zu den Parteien, die für einen Exit beim Brexit eintreten, gehören aber auch die Liberaldemokraten und die Grünen. Deren Stimmen fielen allerdings wegen des britischen Mehrheitswahlsystems vielerorts unter den Tisch.

Mit Spannung wurde daher erwartet, welchen Ton Johnson bei seinem ersten Auftritt vor den Parteifreunden am Freitagmorgen in London anschlagen würde. Der Premierminister bemühte sich um einen Ausgleich. Einerseits äußerte er sich ganz im Sinne der Brexit-Hardliner, als er erklärte, dass die „elenden Drohungen eines zweiten Referendums“ nun endgültig vom Tisch seien. Andererseits zeigte er sich demütig. An die Adresse der traditionellen Labour-Wähler, die ihm diesmal die Stimme gaben, richtete er eine Botschaft: Er sei sich bewusst, dass diese Wähler ihm die Stimmen gewissermaßen nur leihweise gegeben hätten. Er müsse die Unterstützung dieser Wähler in der Zukunft erst noch verdienen, fügte er hinzu. Der BBC- Kommentator Andrew Marr meinte, dass Johnsons Ansprache glücklicherweise nicht an die Tiraden von Margaret Thatcher erinnert habe. Die frühere Premierministerin hatte in den Achtzigerjahren die Bevölkerung im Vereinigten Königreich erheblich gespalten.

Das Verhältnis zur EU bleibt offen

Die bevorstehenden Handelsgespräche zwischen Großbritannien und der EU dürften alles andere als einfach werden. Im Wahlkampf wollte Corbyn während des letzten TV-Duells mit dem Premierminister vor einer Woche die Aufmerksamkeit darauf lenken, dass die Verhandlungen voraussichtlich mehrere Jahre in Anspruch nehmen werden. Allerdings erschien das nächste Kapitel, das wohl ab Februar beim Brexit mit ebendiesen Gesprächen aufgeschlagen wird, vielen Briten bei dieser Wahl als zweitrangig. Ihnen ging es ganz im Sinne von Johnson darum, die Trennung von der EU erst einmal zu vollziehen.

Jetzt aber, da sich ein Austritt aus der EU zum 31. Januar 2020 abzeichnet, rücken die anschließenden Gespräche über ein Freihandelsabkommen stärker in den Fokus. Der irische Regierungschef Leo Varadkar sagte am Freitag am Rande des EU-Gipfels in Brüssel, dass es „enorm ehrgeizig“ sei, bis Ende des kommenden Jahres das Abkommen fertigzustellen. Genau dies hat Johnson aber versprochen. Der Premier hat noch bis zum kommenden Juni Zeit, um von seinem Versprechen abzurücken und eine Verlängerung zu beantragen. Allerdings hat sich Johnson in der Vergangenheit flexibel gezeigt, als er entgegen seiner Ankündigung eine Verlängerung der Brexit-Frist über den 31. Oktober hinaus beantragte.

Als Knackpunkt könnte sich bei den Handelsgesprächen der Bereich der Dienstleistungen und Finanzgeschäfte erweisen, die den Briten besonders wichtig sind. Falls diese Bereiche in das geplante Abkommen hineingenommen werden sollten, könnte sich die Ratifizierung sehr lange hinziehen – weil auch die Parlamente in sämtlichen EU-Mitgliedstaaten zustimmen müssten.

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