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Köchin und Oberkellner - Kanzlerin Angela Merkel und der amtierende Länder-Chef Michael Müller

© Bernd von Jutrczenka/Pool via REUTERS

Die späte Einsicht der Ministerpräsidenten: Warum der Lockdown-Beschluss erst jetzt kam

Lange sträubten sich Ministerpräsidenten gegen einen zweiten harten Lockdown. Doch bereits am Samstag kam der Durchbruch. Eine Rekonstruktion.

Von Robert Birnbaum

Sie könnte jetzt auftrumpfen, wenigstens ganz kurz mal: Hab‘ ich‘s euch nicht vor Wochen schon gesagt? Aber Angela Merkel neigt nicht zum Nachkarten, und heute kann sie es sich sowieso sparen. 

Michael Müller leistet schon Abbitte. Minutenlang versucht der Berliner Regierende um Verständnis zu werben, dass es lange so schwierig war mit der Einigkeit unter den Kolleginnen und Kollegen Ministerpräsidenten.

Diesmal ist es einfach. Gerade eine Stunde dauert die Videokonferenz am Sonntag Vormittag, dann verkündet die Kanzlerin den zweiten harten Lockdown für Deutschland: „Wir sind zum Handeln gezwungen und handeln jetzt auch.“

Der knappe Satz beschreibt die Lage. Der „Lockdown light“ ist gescheitert. Seit Tagen steigen die Zahlen. Das Robert-Koch-Institut meldet jeden Tag neue Rekorde an Neuinfektionen und Toten. Markus Söder hat nachgerechnet, damit es auch die kapieren, die das Virus immer noch für eine Art Grippe halten: „Alle drei Minuten stirbt irgendwo in Deutschland ein Mensch an Corona.“

Bis Weihnachten wird es ein Toter alle zwei Minuten sein. Das ist unabwendbar. Die Toten der Festtage sind heute schon infiziert. Die Pandemie folgt einer furchtbar simplen Mathematik.

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Müller also, als amtierender Chef der Ministerpräsidentenrunde, hat einiges zu erklären. Es ist erst wenige Wochen her, dass der Kreis Merkels Vorstoß empört zurückgewiesen hatte, auch an Schulen die Kontakte stärker zu beschränken. 

Im November noch ein Sammelsurium an Ausnahmeregelungen

Das Länderpapier für die folgende November-Runde war dann ein Sammelsurium von Detail- und Ausnahmeregeln, die hinterher jeder auslegte wie er wollte. Noch in ihrer Brandrede im Bundestag schimpfte Merkel über Länder wie Berlin, NRW oder Baden-Württemberg, die Hotels für Weihnachtsbesucher öffnen wollten. 

Die Begründungen klangen fürsorglich – besser allein im Hotelbett als eng auf der Wohnzimmercouch. Aber im Kanzleramt rechneten sie anders: Mehr Komfort führt zu mehr Besuchsverkehr.

Müller holt lang zur Verteidigung aus

Müllers Rückblick auf diese Zeit klingt denn auch ziemlich defensiv. Es sei doch allen wichtig gewesen, auch mal Beschränkungen wieder aufzuheben. Die wissenschaftliche Beratung habe sich doch öfter geändert. Keiner habe von Anfang an den Königsweg gekannt. Es habe doch Länder mit hohen Fallzahlen gegeben und solche mit niedrigen. Und trotzdem: „Wir haben immer wieder einen gemeinsamen Weg skizzieren können“, versichert der SPD-Politiker.

Das stimmt schon. Im Streit getrennt haben sie sich nie. Übrig blieb aber ausgerechnet mit Beginn der zweiten Welle nur der kleinste gemeinsame Nenner. Dass die gefährlicher wird als die erste, hätte man wissen können. Die Geschichte der Pandemien ist voll davon. Die Warnungen der Fachleute waren eindeutig: Viele Infizierte statt weniger Hotspots, ein diffuses Geschehen - da ist es rasch vorbei mit der Kontrolle.

Söder hat es nicht so mit Zurückhaltung beim Rechthaben

Markus Söder hat von Anfang an auf den größten Nenner gedrängt. Er hat es nicht so mit der vornehmen Zurückhaltung beim Rechthaben. Der CSU-Chef erinnert genüsslich an „Diskussionen über Ausnahmen und Details“, die bei den Bürgern viel Akzeptanz gekostet hätten. 

Man habe Minister im Fernsehen erlebt, die selbst nicht auf Anhieb gewusst hätten, was gerade gelte und was nicht. Und bissig weist er darauf hin, „wie schnell es jetzt in einigen Bundesländern umgeht, die noch vor Wochen gefragt haben: Warum setzen wir uns überhaupt zusammen?“

Die Welle überrollt die Inseln der Seeligen

Gemeint sind Länder wie Sachsen-Anhalt oder Sachsen. Heute werden auch die einstigen Inseln der Seeligen von der Welle überrollt. Sachsens Regierungschef Michael Kretschmer gehört neuerdings zu den ganz Entschlossenen. „Die Zeit der Appelle ist vorbei“, sagt der CDU-Mann am Sonntag. Sein Land geht schon am Montag in den verordneten Stillstand.

Aber auch im Norden, in Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern, sind die Vorboten der Flut unübersehbar. Manuela Schwesig merkte zwar erst vor kurzem im Fernsehinterview an, die Zahlen ihres Landes hätten andere gerne. Aber um die konkrete Nummer machte die SPD-Frau aus Schwerin lieber einen Bogen. Ab 50 wöchentlichen Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner wird man Hotspot; ihr Land lag zu dem Zeitpunkt schon über 70.

„Von Süd nach Nord wandert‘s überall“, stellt Söder am Sonntag fest. Das macht es gleich etwas tröstlicher, dass Bayern gerade die 200er-Marke überschritten hat, die im neuen Pandemiegesetz als Schwelle zu massivsten Maßnahmen definiert ist. Die Marke sorgt auch dafür, dass er befindet: „Wer hat die bessere Figur abgegeben – das hilft niemandem!“

Söders Nachsicht mit sich selbst

Die Nachsicht mit sich selbst hindert ihn andererseits nicht, die Beschlüsse erheblich länger und ausführlicher als die Kanzlerin noch einmal mit seinen Worten darzustellen und den Vortrag mit „liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger“ einzuleiten. 

Den heimischen Rekord schiebt er auf die lange Außengrenze zu zeitweisen Problemländern wie Österreich oder Tschechien. Dass von den gut 1000 Grenzkilometern ziemlich viele durch unwegsame Bergwelt verlaufen, erwähnt er nicht.

Immer mir entlang - Markus Söder weist auch Olaf Scholz schon mal den Weg
Immer mir entlang - Markus Söder weist auch Olaf Scholz schon mal den Weg

© Bernd von Jutrczenka/Pool via REUTERS

An diesem Sonntag hält ihm das aber keiner vor. Er hat Recht behalten, und Merkel hat es auch. 

Selbst damals mit dem Schul-Vorstoß. Was haben sich Kultusminister da noch hinter der Formel verschanzt, Schulen seien „keine Treiber der Pandemie“! Das war schon vor Wochen kaum mehr haltbar. Gerade haben österreichische Forscher das glatte Gegenteil belegt: Ihre groß angelegte „Gurgelstudie“ zeigte bei Schülern genauso hohe Infektionsraten wie unter ihren Lehrern, bloß merkt es bei putzmunter symptomfreien Kleinen keiner.

SPD-Ministerpräsidenten wollten zunächst mehr Spielraum

Auch Müller räumt jetzt ein, es gebe an Schulen zwar keine „Auffälligkeiten“, aber doch „Kontakte“. Und jeder Kontakt ist rasch einer zuviel in diesem Stadium der zweiten Welle.

Die Kurven zeigen es. Sie haben erzwungen, dass es diesmal flott ging mit der Einigung. Söder konnte als Sprecher der Unionsländer seit Tagen eine gemeinsame Linie vermelden. Armin Laschets NRW, Daniel Günthers Schleswig-Holstein, auch die Ost-Länder drangen unisono auf den Lockdown noch vor Weihnachten.

Müller musste als Koordinator aller Länder erst noch ein paar SPD-Kollegen bearbeiten, die sich mehr Spielraum erhalten wollten. In der Beschlussvorlage findet sich Spielraum vor allem für härtere Maßnahmen.

Merkel wollte kein Gefeilsche mehr erleben

Es ging auch schnell. Doch erst als am Samstag alles klar war, stimmte Merkel dem Cheftreffen zu. Noch einmal Gefeilsche, das hatte sie unmissverständlich wissen lassen, mache sie nicht mehr mit. „Ganz oder gar nicht, nicht mehr halbherzig ein bisschen“, gibt Söder als Motto aus.

Warum dann nicht gleich bundesweit am Montag zum Wochenanfang? Familien, Schulen, der Handel bräuchten doch „wenigstens ein, zwei Tage“, wirbt Müller um Verständnis. In manchen Ländern müssten die Parlamente beteiligt werden. 

Aber jeder Einzelne möge sich doch bitte auch selber prüfen, besonders mit Blick auf die Weihnachtsausnahmen, wie er sich und die Familie schützen könne: „Man muss auch nicht alles machen, was möglich ist.“

Da ist er wieder, der Appell an die Vernunft. Er stand als heimliches Motto über dem „Lockdown light“.

Wo beginnt die Unvernunft?

Nur ist es mit der Vernunft so eine Sache, wenn niemand genau sagen kann, wo Unvernunft anfängt. Schon beim Aneinandervorbeidrängeln in den Einkaufsstraßen? Erst am Glühweinstand? Oder beim Schwatz unter Nachbarn auf, na ja, fast eineinhalb Meter Abstand mit, nun ja, etwas verrutschter Maske?

Aber gerade weil das so schwer zu sagen ist, und weil der Mensch ja auch gerne mal großzügig ist zu sich selbst, braucht es klare Linien. „Hier geht es nicht um Kommas“, sagt Finanzminister Olaf Scholz. "Wir haben dazugelernt", räumte dieser Tage auch ein Ländervertreter ein.

Also hätte man viel früher hart reagieren müssen? „Es ist heute wirklich nicht ein Tag, zurückzublicken“, sagt Merkel. „Es ist der Tag, das Notwendige zu tun.“ Und, fügt sie großmütig an, sie habe ja auch gehofft, dass der lighte Lockdown wirkt.

Wirklich geglaubt hat sie es nicht, zuletzt immer weniger.

Das Flehen der Wissenschaft wird nun doch erhört

Aber sie hat jetzt bekommen, was sie für nötig erachtete. Wer den Beschluss vom Sonntag neben die Empfehlung der Nationalakademie Leopoldina legt, findet sie Punkt für Punkt erfüllt. Das Flehen der Wissenschaft, von der Kanzlerin im Bundestag zur Schlagzeile des Tages verstärkt, es wird erhört.

Weil es nicht anders geht. Merkel dankt den Ärzten und Pflegern in den Kliniken: „Für sie wird dies ein sehr schweres Weihnachten.“

Für keinen wird es einfach. Die Zahlen werden unerbittlich weiter steigen; frühestens in zehn Tagen, Merkel erinnert an dieses tückische Gesetz der Pandemie, wird man zum ersten Mal ablesen können, ob die Maßnahmen vom Sonntag wirken.

Dass der Stillstand am 10. Januar endet, glaubt kaum einer. Das Datum ist nur dem Pandemiegesetz geschuldet, das jede Verordnung auf vier Wochen begrenzt. Am 5. Januar sieht man sich wieder. „Ich sag‘ ausdrücklich: So lange es dauert“, warnt Söder vor. „Wir haben noch einen recht langen Weg vor uns“, sagt die Kanzlerin.

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