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Kräne stehen auf einer Baustelle für mehrstöckige Wohnhäuser.

© Christian Charisius/dpa

Die schwarze Null muss kippen – oder nicht?: Eigentlich schwimmt der Bund im Geld

Es herrscht Investitionsstau trotz hoher Einnahmen. Wie kann das sein und wie sinnvoll sind jetzt die Forderungen nach mehr Neuverschuldung? Eine Analyse.

Der Druck auf die Regierung wächst und wächst, wieder mehr Schulden zu machen. Aber die Reihen stehen und stehen. Der Streit um die Neuausrichtung des Bundeshaushalts ist von Monat zu Monat heftiger geworden, seit sich im Frühjahr Stimmen aus der Wirtschaft zu denen der oppositionellen Linken und Grünen gesellten – mit der Forderung, die Bundesregierung müsse angesichts einer abflauenden Konjunktur mehr tun.

Mehr investieren, in Infrastruktur und Bildung und gerne das, was die fordernden Verbände so an Interessen vertreten. Mehr Geld müsse in die Wirtschaft gepumpt werden. Und dafür solle der Staat neue Schulden machen. Die schwarze Null, also ein ohne neue Kredite ausgeglichener Etat, müsse kippen. Eines der Aushängeschilder der großen Koalition, mit dem sich Union und SPD auch weiterhin als Hort der Stabilität präsentieren möchten, soll also verschwinden.

In der Koalition aber ist die Neigung dazu weiterhin gering. Das hat sich gezeigt, als Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) am Dienstag zum Auftakt der abschließenden Debatte zum Etat 2020 im Bundestag redete, das hat sich am Mittwochmorgen bestätigt, als Kanzlerin Angela Merkel in der Generalaussprache die große Linie zeichnete.

Es wird sich noch bis Freitag, mehr oder weniger, durch alle Auftritte der Koalitionsredner ziehen. Viele von denen, die heute regieren, haben schon die Finanzkrise durchgestanden. Was ist dagegen ein Jahr mit schwachem Wachstum oder eine kleine technische Rezession mit zwei Quartalen im Minus?

Das Wirtschaftswachstum sackt ab

Aber die anderen Stimmen gegen diese Politik mehren sich. Die OECD hat in der vorigen Woche gefordert, die Bundesregierung müsse mehr tun, um das maue Wachstum anzukurbeln. Es schwächelt nicht nur in Deutschland, auch weltweit ist es abgesackt.

Die Prognosen ergeben für 2020 allenfalls Stagnation oder aber einen weiteren Rückgang in den wichtigsten Wirtschaftsnationen – USA, Euro-Zone, Großbritannien, Japan. Und auch in China, der Konjunkturlokomotive der vergangenen Jahre. Deutschland humpelt ganz am Ende, nur noch 0,4 Prozent soll das Wachstum im kommenden Jahr betragen.

Die Zentralbanken aber haben ihr Pulver verschossen. Über den Leitzins lässt sich eine Stimulation nicht mehr auf den Weg bringen, das Mittel ist längst ausgereizt. Auch die Anleihenaufkäufe scheinen nicht mehr viel zu bewirken. Dafür sind die Zentralbanker es leid, die Prügel einzustecken – weil Sparer auf das Zurückgelegte nichts mehr draufgelegt bekommen, aber die Immobilienpreise ins Unbezahlbare tendieren.

In ihrer ersten öffentlichen Rede als neue EZB-Präsidentin hat Christine Lagarde das am Freitag freundlich angesprochen, als sie ein größeres Engagement der Staaten in der Euro-Zone verlangte. Natürlich ist die erste Adresse solcher Appelle stets Berlin. Die EZB käme schneller und mit weniger Nebeneffekten an ihr Ziel der Wachstumsbeschleunigung, wenn die Regierungen über ihre Ausgabenpolitik mehr Unterstützung lieferten. „Die öffentlichen Investitionen im Euro-Raum liegen weiterhin unter ihren Vorkrisen-Niveaus“, betonte Lagarde. Sie seien aber „ein besonders wichtiger Teil der Antwort auf die Herausforderungen von heute“.

Die Regierung hält an der Schuldenbremse fest

Andererseits werden Scholz und Wirtschaftsminister Peter Altmaier nicht müde, darauf hinzuweisen, dass auch ein geringes Wachstum immer noch ein Wachstum sei und dass kreditfinanzierte Mehrausgaben zur Stützung der Konjunktur nur in einer echten Krisensituation infrage kämen. Das ist immerhin auch die Verfassungslage in Deutschland, seit die Schuldenbremse gilt.

Daher hätte es ganz gut in die Dramaturgie von Dieter Kempf und Reiner Hoffmann gepasst, wenn ein bisschen Rezessionsangst ins Spiel gekommen wäre, als sie vor einer Woche in einer konzertierten Aktion der Arbeitgeber und der Gewerkschaften ebenfalls mehr Investitionen der Bundesregierung forderten.

Aber der Chef des Bundesverbands der deutschen Industrie und der DGB-Vorsitzende hatten Pech: Statt des vielfach erwarteten Minuszeichens im dritten Quartal meldeten die Statistiker ein Mini-Plus beim Wachstum von 0,1 Prozent. Und so fehlte der Forderung, für Mehrinvestitionen in den kommenden zehn Jahren insgesamt 450 Milliarden Euro bereitzustellen (und zwar über einen rein kreditfinanzierten Fonds außerhalb des normalen Etats, also an der Schuldenbremse vorbei), ein akutes Dringlichkeitssignal.

Der Bundestag debattiert den Etat 2020.
Der Bundestag debattiert den Etat 2020.

© Michael Kappeler/dpa

Die Regierung gibt sich derweil unbeirrt. Zwar wird mit Sorge registriert, dass zwei starke Sektoren der Wirtschaft – Automobil und Maschinenbau – schwere Zeiten durchleben, nicht zuletzt wegen der internationalen Handelskonflikte. Im Bundeswirtschaftsministerium wird aber auch darauf aufmerksam gemacht, dass keineswegs die gesamte deutsche Wirtschaft schwächelt.

Im Dienstleistungsbereich gibt es nach wie vor Wachstum, die Baubranche boomt seit Jahren. Im Vergleich zum Vorjahr sind 180 000 Frauen und Männer mehr in Lohn und Brot, dennoch herrscht Fachkräftemangel. Der Binnenkonsum ist nach wie vor recht lebhaft, wozu auch kleine Maßnahmen der Regierung wie das höhere Kindergeld beigetragen haben. Zudem wurden im Etat für 2020 die Investitionen gerade nochmals um 1,2 auf nun fast 43 Milliarden Euro erhöht – begonnen hatten Union und SPD 2014 mit 25 Milliarden.

Geplante Investitionen werden nicht umgesetzt

Doch hier tut sich seit Jahren schon ein Problem auf, das immer mehr in den Mittelpunkt des Streits um das richtige Geldausgeben gerät: Investitionen zu planen, bedeutet nicht zwangsläufig, dass Investitionen auch getätigt werden. Mehr als 20 Milliarden Euro, heißt es aus Koalitionskreisen, lägen abrufbereit in den diversen Sondertöpfen für finanzschwache Kommunen oder den Breitbandausbau. Die Ausgabereste (also Mittel, die nicht abfließen) erhöhten sich zwischen 2015 und 2019 von gut neun Milliarden Euro auf 19,2 Milliarden.

Und aus den Überschüssen der vergangenen fünf Jahre sammelten sich 40 Milliarden Euro an, die in eine Rücklage wanderten. Anders gesagt: Der Bund schwimmt im Geld. Und das, obwohl er sich seit Jahren immer mehr in die Finanzierung von Aufgaben der Länder und Kommunen hineingemischt hat, etwa bei der Schuldigitalisierung oder dem Kita-Ausbau. Da stellt sich den Haushältern der Koalition die Frage, warum man neue Kredite aufnehmen solle für Investitionen, während zig Milliarden quasi herumliegen, weil die damit angedachten Investitionen nicht ins Laufen kommen.

In den Kommunen fehlen Planungskapazitäten

Und so dreht sich der Streit zunehmend um die Gründe dafür. In den Kommunen fehlten Planungskapazitäten, heißt es häufig. Aber woher sollen plötzlich Fachkräfte kommen, wenn es doch gerade an ihnen mangelt und im Zweifelsfall die Privatwirtschaft besser zahlt? Die Bauwirtschaft habe zu wenig Kapazitäten aufgebaut, weil sie nicht langfristig mit Aufträgen rechnen könne, lautet eine weitere Erklärung für das langsame Tempo öffentlicher Investitionen. Aber gerade der Bausektor ist seit Jahren gut ausgelastet und dürfte es noch eine Weile bleiben.

Programme seien zu bürokratisch, Projekte klageanfällig, Verbände und Bürger nutzten die Möglichkeiten, Investitionen aufzuhalten, ist oft zu hören. Andererseits aber wurden gerade Klagemöglichkeiten und Bürgerbeteiligung ausgeweitet, um Widerstände gegen Großinvestitionen aufzufangen.

Deutschland hat eigentlich genügend Einnahmen

Eckhardt Rehberg, Chefhaushälter der Union, verweist angesichts der Geldfülle im Etat und einer hohen Steuerquote von 23 Prozent der Wirtschaftsleistung darauf, dass Deutschland kein Einnahmenproblem habe. Neue Schulden lehnt er daher ab. Aber natürlich ist der Wiedereinstieg in die Neuverschuldung verlockend angesichts der Möglichkeit, sich praktisch ohne Gegenleistung verschulden zu können. So argumentiert der arbeitgebernahe Wirtschaftsforscher Michael Hüther, so sagt es auch der Linken-Finanzpolitiker Fabio De Masi.

Aber wer kauft Anleihen ohne Zinszusage? Aus Anlegersicht sind sie ja praktisch wertlos und allenfalls unter dem Aspekt interessant, dass durch große Nachfrage am Rentenmarkt sich ein Kursgewinn einstellt. Diese Nachfrage aber kommt nicht zuletzt von der Zentralbank und ihrem Ankaufprogramm – das aber seinerseits in der Kritik steht.

Letztlich treffen zwei Welten aufeinander in diesem bisweilen bizarren Streit um die schwarze Null und die Rückkehr zu einer Schuldenpolitik im Zeitalter des Nullzinses. Da gibt es eine Makrosicht, welche sich stark an klassischen Mustern der Konjunkturpolitik orientiert, nach denen der Staat einfach mal ordentlich Geld in die Hand nehmen muss – und schon läuft die Konjunktur wieder. Auf der anderen Seite aber steht eine Mikrosicht der Dinge, die aus den Erfahrungen der vergangenen Jahre die Erkenntnis gezogen hat, dass große Summen im Haushaltsplan oder ein aus Krediten finanzierter Mega-Fonds abseits des Etats zwar Tatkraft suggerieren, aber an der schnöden Wirklichkeit scheitern, in der die Mittel einfach nicht so fließen wie gewünscht.

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