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Olaf Scholz (SPD), Vizekanzler und Bundesfinanzminister, mit Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU)

© dpa/Bernd von Jutrczenka

Die Morgenlage aus der Hauptstadt: Fleißkärtchen nützen politisch wenig

Die große Koalition zieht Halbzeitbilanz +++ CSU-Basis haut Söder die Frauenquote um die Ohren +++ Thüringen wählt.

Von Robert Birnbaum

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Wir schreiben vor wichtigen Ereignissen oft von einer „Woche der Entscheidungen“. Die kommenden Tage werden aber wohl eher zur Woche der Vorentscheidungen. Die große Koalition zieht Halbzeitbilanz, bei der SPD endet am Samstag die erste Runde im Vorsitzenden-Casting. Doch ob die erste Hälfte auch die letzte aller Halbzeiten für Kanzlerin Angela Merkel bleibt, entscheiden die Sozialdemokraten wahrscheinlich erst mit einer Stichwahl.

Immerhin, das Brexit-Drama könnte im Lauf der Woche tatsächlich zu einem Ende kommen, wäre nicht das britische Unterhaus noch unberechenbarer als das Herbstwetter auf der Insel: Es wird regnen, nur weiß keiner wann. Einzig in Thüringen fällen, regne was wolle, am Sonntag die Wähler die Entscheidung über den nächsten Landtag.

Aber der Reihe nach. Gestern Abend trafen sich die Spitzen der großen Koalition mal wieder im Kanzleramt, auf der Tagesordnung unter anderem die eigene Halbzeitbilanz. Am Donnerstag vor zwei Jahren kam der Bundestag zur konstituierenden Sitzung zusammen. Bis zum Koalitionsvertrag dauerte es bekanntlich noch drei weitere Monate, doch das zählt nicht mit.

Diese Halbzeitbilanz ist eine vertrackte Sache. Mathematisch stehen Union und SPD gut da: 61 Prozent der Vorhaben im Vertrag sind umgesetzt, rechnete unlängst die Bertelsmann-Stiftung vor. Politisch nützt das Fleißkärtchen allerdings wenig. Die Arbeitsgemeinschaft „Migration und Vielfalt“ der SPD zum Beispiel sieht sich von der Union untergebuttert. Sie stellt sich zusammen mit anderen Groko-Skeptikern die Frage, wozu sie sich die zweite Hälfte auch noch antun muss. Die Chef-Koalitionäre sollten ihre Halbzeitbilanz also besser als Sinnsuche mit dem Blick zurück nach vorn gestalten.

Das könnte auf den letzten Metern dem einzigen der SPD-Pärchen helfen, das eindeutig für eine Fortsetzung der Koalition steht. Schaffen es Olaf Scholz und Klara Geywitz nicht bis in den Stichentscheid, kann Merkel ihre Tage zählen. Ob sie es schaffen, trauen sich selbst SPD-Kenner nicht vorherzusagen. Das Kandidatengewimmel macht die Einschätzung schwer, und ohnehin ist so eine Basis oft eigenwillig.

Markus Söder konnte davon gestern Scholz im Kanzleramt brühwarm berichten. CSU-Parteitage sind nämlich basisnahe Veranstaltungen, bei denen Gemeinde- und Kreispolitiker und nicht die höheren Funktionärsränge den bisweilen rustikalen Ton angeben. Der (zu 80 Prozent männlichen) Basis geht Söders flotte Öko- und Lifestyle-Modernisierung entschieden zu weit. Sie schlug dem frisch wiedergewählten Chef die geplante Verschärfung der Frauenquote um die Ohren. Der Versuch der Parteioberen, sich bei der Youtube-Jugend einzuschleimen, ging übrigens ebenfalls schief. Eine „Social-Media-Lounge“ in der Münchener Olympiahalle wartete vergeblich auf die eigens eingeladenen Stars der Influencer-Szene.

Brexit, die soundsovielte. Bei oberflächlicher Betrachtung hat Boris Johnson in der historischen Unterhaus-Sitzung am Samstag seiner bruchlosen Serie von Niederlagen nur eine weitere hinzugefügt: Statt über seinen Brexit-Deal mit der EU abzustimmen, verschob das misstrauische Parlament das Votum, bis das Brexit-Umsetzungsgesetz in trockenen Tüchern ist. Schaut man näher hin, stehen Johnsons Chancen aber gar nicht so schlecht, im Eilverfahren noch vor dem 31. Oktober seinen Deal abstimmen zu lassen – und sogar zu gewinnen. Die unter unwilligem Gezappel vom Premierminister beantragte Fristverlängerung bei der EU (erster Brief, ohne Unterschrift: „…bitten wir um Aufschub…“, zweiter Brief, mit Unterschrift: „…den ich aber gar nicht will…“) könnte dann entfallen oder auf eine kurze technische Umsetzungsfrist schrumpfen.

Schließlich: Thüringen. Die am wenigsten beachtete Landtagswahl des Jahres könnte im Schlussspurt doch noch spannend werden. Seit voriger Woche liegt eine Umfrage vor, in der Mike Mohrings CDU zum ersten Mal seit Langem wieder auf Augenhöhean Ministerpräsident Bodo Ramelows Linke heranreicht, und das zu Lasten der AfD. Die Forschungsgruppe Wahlen steht mit diesem Stimmungsbild zwar unter den Demoskopen derzeit alleine. Aber das stand sie zuletzt vor der Saarland-Wahl 2018 auch schon einmal – und hatte am Ende doch den richtigen Riecher.

Wir werden Ihnen in den nächsten Tagen unsere eigenen Eindrücke schildern. Heute macht auf der Seite Drei ein Porträt des AfD-Spitzenmanns Björn Höcke den Anfang. Morgenlage-Kollegin Maria Fiedler hat es mit dem skeptischen Titel „Der Scheinriese“ überschrieben. Am Ende dieser Woche können wir Maß nehmen.

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