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Zwei Kinder halten hinter ihrem Rücken Tulpen verstecken während ihre Mutter am Tisch sitzt.

© Annette Riedl/dpa

Die Mai-Rituale sind aus der Zeit gefallen: Muttertag gehört abgeschafft, feiern wir den Elterntag

Das gesellschaftliche Bild einer modernen Mutter ist noch nicht gefunden. Karrierefrau oder Glucke? Sie sollte sich nicht entscheiden müssen. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Karin Christmann

Die Merci-Folie knistert zwischen den Fingern, in Regalen wird Platz freigeräumt für bunt verschmierte Bastelkunst. Holt die Blumenvasen aus dem Schrank, es ist Muttertag. Nächste Woche ist Vati dran, dann gibt’s Bier und Kurze. Dieses Jahr bitte mit Abstand über den Zaun hinweg, der Bollerwagen bleibt in der Garage.

Die für Eltern vorgesehenen Mai-Rituale sind so anachronistisch, dass es fast schon wieder putzig ist. Sie wirken wie aus der Zeit gefallen, und zwar umso stärker, je größer der Spagat wird, der Müttern an den übrigen 364 Tagen des Jahres abverlangt wird. Bayern öffnet die Blumenläden, Mutti räumt noch kurz die Homeschooling-Hefte vom Esstisch, damit Platz ist für einen bunten Strauß.

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Und überhaupt: Hat Vati dran gedacht, für die kommende Woche den nächsten Schwung Arbeitsblätter auszudrucken? Ohne die Väter und alle anderen Elternteile lässt sich ein Muttertag nicht mehr denken. Die Gesellschaft ist weiter, als den Floristen lieb sein kann.

Baerbock kann Kanzlerin werden - aber Vorbild ist sie nicht

Ja, eine Frau mit zwei noch eher jungen Töchtern kann voll einsteigen ins Rennen ums Kanzleramt. In den vergangenen Wochen wurde das nicht ernsthaft in Frage gestellt – und das ist ein riesiger Fortschritt. Zur Wahrheit gehört aber auch: Kinder und Familie kosten Zeit und Kraft, und niemandes Tag hat mehr als 24 Stunden. Annalena Baerbock kann selbstverständlich Kanzlerin werden. Aber natürlich hätte sie dann nur sehr wenig Zeit für ihre beiden Töchter.

[Lesen Sie auch: Mit Kindern an die Macht? 5 Politiker über den Spagat zwischen Karriere und Familie (T+)]

Gut, dass sie und ihr Mann diesen Weg für ihre Familie frei wählen können. Zahllose Spitzenpolitiker haben jahrhundertelang ebenso entschieden, ohne sich Fragen gefallen lassen zu müssen, wer eigentlich auf ihre Kinder aufpasst.

Doch solch ein krasser Ausnahmejob ist kein Beispiel und kein Vorbild für Mütter, die gemeinsam mit einem anderen Elternteil oder auch auf sich allein gestellt versuchen, eine Balance zu finden: zwischen Klassenfest und Teamsitzung, zwischen Gute-Nacht-Kuscheln und der letzten schnellen Mail des Tages, zwischen den Jobs aller Elternteile und den Bedürfnissen aller Kinder.

Zumindest ist nicht zu erwarten, dass eine Kanzlerin Baerbock im Whats-App-Klassenchat gefragt würde, ob sie fürs Sommerfest einen Marmorkuchen beisteuern kann.

Permanent für den Job verfügbar? Bitte nicht mehr

Das gesellschaftliche Bild einer modernen Mutter ist noch nicht gefunden. Es müsste eines sein, in dem Frauen sich nicht permanent entscheiden sollen, ob sie Karrierefrau oder Glucke sein möchten. Dazu braucht es andere Leitbilder als das der permanent für den Job verfügbaren Elternteile, die nebenbei die Steuerzahler:innen von morgen großziehen.

Solche Leitbilder müssen in praktische Politik umgesetzt werden, von der Förderung von Teilzeitmodellen bis zur Qualitätsoffensive in der Tagesbetreuung. Dabei müssen auch Familien im Fokus sein, bei denen es überhaupt nicht darum geht, welcher Karriereschritt als nächstes angepeilt wird, sondern darum, die Miete für den nächsten Monat zu zahlen. Allzu oft sind es alleinerziehende Mütter, die vor derartigen Problemen stehen.

Speziell mit Blick auf Mütter ist außerdem wichtig, was derzeit unter dem Stichwort „Mental Load“ diskutiert wird: Erst wenn Väter nicht nur einzelne Aufgaben übernehmen, die an sie delegiert werden, sondern eigenverantwortlich ins familiäre Projektmanagement einsteigen, können Mütter mal die Füße hochlegen.

Die Pandemie kann der Anlass sein umzudenken

Das vergangene Jahr hat gezeigt, dass die Alltagsmodelle in vielen Familien auf Kante genäht sind. Im allgemeinen Wahnsinn war aber auch positive Überraschung zu vernehmen. Manche Eltern haben gestaunt, wie ihre Kinder aufblühten, als sie mehr Zeit zu Hause und weniger Zeit in der Kita verbrachten. Manche Familien haben die viele Zeit miteinander trotz allem genießen können und sehnen sich gar nicht danach, den vorpandemischen Alltag wieder aufzunehmen.

Das könnte Anlass sein, Elternschaft und damit Mutterschaft gesellschaftlich neu zu denken. Ein Vorschlag für 2022: Muttertag abschaffen, Elterntag feiern.

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