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Schwere Zeiten: Kanzler Olaf Scholz im Bundestag.

© Lisi Niesner/REUTERS

Die Last der „Zeitenwende“: Der Kanzler und der Krieg – fünf Erkenntnisse

Friedrich Merz droht der Ampel. Der Kanzler hat Mühe, den Laden zusammenzuhalten. In Moskau reden sie vom Atomkrieg. Über einen besonderen Tag im Bundestag.

Wo ist Olaf Scholz? Das Hohe Haus hat sich schon erhoben, "Guten Morgen liebe Kolleginnen und Kollegen", sagt Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (Grüne). Da kommt Scholz mit seiner alten schwarzen Aktentasche doch noch um die Ecke gebogen. Gerade rechtzeitig, um zum Start der Generaldebatte, der Aussprache über den Kanzleretat 2022, nichts von der Gardinenpredigt von Friedrich Merz zu verpassen.

Es ist halt viel los in diesen Tagen, entsprechend geschäftig geht es auf der Regierungsbank zu. Christian Lindner im Zwiegespräch mit Robert Habeck, Nancy Faeser und Annalena Baerbock ebenso, sie versuchen gerade Luftbrücken und mehr Züge zu organisieren, um die aus der Ukraine flüchtenden Menschen in ganz Europa zu verteilen.

Ja, das sei alles eine Zeitenwende, sagt Merz mit Blick auf Scholz’ historische Regierungserklärung vom 27. Februar. In der Politik der Ampel sei aber nach fast vier Wochen Krieg von einer Zeitenwende nicht viel zu bemerken, mäkelt der CDU/CSU-Fraktionschef am Pult des Bundestags. „Dann müssen Sie auch durch diese Zeitenwende führen, das erwarten wir vom Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland.“

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Er fordert von Scholz mal klare Antworten: Wie viele Waffen würden nun geliefert? Wieviel Geld soll tatsächlich mehr für die Bundeswehr zur Verfügung stehen? Merz liefert sich auch ein munteres, von lauten Zwischenrufen begleitetes Scharmützel mit der FDP-Fraktion. „In keiner Zeit ist der Verteidigungshaushalt so schlecht behandelt worden als in der Zeit, als sie an der Regierung waren“, sagt er mit Blick auf das Milliardensparpaket und die Aussetzung der Wehrpflicht 2011.

Er erwähnt aber nicht, dass die FDP damals mit der Union und Kanzlerin Angela Merkel (CDU) regierte. „Sie Frau Strack-Zimmermann sind als Vorsitzende des Verteidigungsausschusses zu gewisser Zurückhaltung verpflichtet“, ruft er der FDP-Abgeordneten zu. Und betont in Richtung des Kanzler zu seiner Rechten: „Sie wollen von uns eine Zustimmung zu einer Grundgesetzänderung.“ Dann hat Merz eine kleine Überraschung parat, er weiß wie die Ampel, dieses ungewöhnliche Dreier-Bündnis mit sehr ungleichen Partnern zu piesacken ist.

Um das Sondervermögen Bundeswehr mit 100 Milliarden im Grundgesetz zu verankern, braucht es eine Zwei-Drittel-Mehrheit, das geht nur mit der Union. Da gerade bei SPD und Grünen einige das Vorhaben als Antwort auf den russischen Krieg skeptisch sehen, kündigt er an, dass von der Union nur so viele Abgeordnete an der Abstimmung darüber teilnehmen werden, wie es Stimmen braucht. „Sie werden mit jedem einzelnen Abgeordneten hier Ja sagen müssen.“

Heißt: Kein einziger Abweichler soll möglich sein, Scholz‘ Kanzlerschaft hängt nun an diesem Projekt. Schon bei Corona und Impflicht war deutlich geworden, dass eine eigene Mehrheit in diesem Dreier-Bündnis nicht immer sicher ist, weshalb teils kreative Wege gegangen werden. Die CDU/CSU sei nicht „die Ersatzbank“ für Mehrheiten, ruft Merz. „Nein wir richten es nicht.“

Es folgt der Kanzler, eine gewohnt sachliche Rede - und eine, in der er einiges geraderückt und das Arbeiten an einer neuen geostrategischen Ordnung ankündigt. Es sind Tage, die in die Geschichtsbücher eingehen. Was nicht anders zu erwarten war: Scholz ignoriert Merz, der rhetorisch stark die Rolle des Oppositionsführers ausfüllt, weitgehend. Er reagiert nicht gern spontan, sondern liest stur sein 39-seitiges Redemanuskript ab.

Spürbar wird an diesem Tag: Die Koalition wirkt alles andere als stabil.

Olaf Scholz (SPD), Bundeskanzler
Olaf Scholz (SPD), Bundeskanzler

© IMAGO/Christian Spicker

Erste Erkenntnis: Der Kanzler kann der Ukraine wenig mehr bieten.

Mit knapp einwöchiger Verspätung antwortet er erstmals ausführlicher auf die Ansprache des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj im Bundestag, der von Scholz persönlich ein Einreißen der entstehenden neuen Mauer der Unfreiheit gefordert hatte, auch indem nicht die Wirtschaft an erster Stelle steht, sondern dass Deutschland durch einen Gas- und Ölboykott Putin den Geldhahn weiter abdreht.

„Präsident Selenskyj, die Ukraine kann sich auf unsere Hilfe verlassen! Seit Kriegsbeginn liefert Deutschland Panzer- und Luftabwehrwaffen, Ausrüstung und Munition an die Ukraine“, sagt Scholz.

Aber nachdem teils bekannt wurde, wie Waffen und Ausrüstung transportiert werden und wo sie übergeben werden, will er keine Details bekannt geben. Immerhin sind nun 500 Flugabwehrwaffen vom Typ Strela angekommen, 500 weitere auf dem Weg und 1700 weitere sollen geliefert werden.

Aber den Energieboykott lehnt Scholz klar ab, trotz der schrecklichen Bilder gerade aus Mariupol. „Ja, wir werden diese Abhängigkeit beenden – so schnell wie nur irgendwie möglich. Dies aber von einem Tag auf den anderen zu tun, hieße, unser Land und ganz Europa in eine Rezession zu stürzen. Hundertausende Arbeitsplätze wären in Gefahr. Ganze Industriezweige stünden auf der Kippe.“ Schon die jetzt beschlossenen Sanktionen würden viele Bürgerinnen und Bürger hart treffen.

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Den von Finanzminister Christian Lindner (FDP) ins Spiel gebrachten Tankrabatt lehnt er ab („Ein Aushebeln von Marktmechanismen oder Dauer-Subventionen – gerade auf fossile Energie – wird es nicht geben“,): Aber SPD, Grüne und FDP feilen seit Tagen an einem milliardenschweren Paket, eventuell mit Zahlungen gerade für Haushalte mit geringen und mittleren Einkommen.

Zweite Erkenntnis: Es wird schwierig für Scholz, seine „Zeitenwende“ zu liefern 

Merz tritt im Stile eines Erpressers auf – so sieht man es zumindest in der Ampel-Koalition. Wenn nicht gilt 100 Milliarden Euro plus jedes Jahr über zwei Prozent der Wirtschaftsleistung (BIP) für Rüstung und Verteidigung, will die Union der Grundrechtsänderung zur Schaffung des Sondervermögens nicht zustimmen.

Denn wenn die 100 Milliarden einfach genutzt werden, um jedes Jahr die Lücken bis zum Erreichen des 2-Prozent-Ziels aufzufüllen, sei das Sondervermögen nach 5 Jahren erschöpft, da die Differenz zu den bisherigen Verteidigungsausgaben etwa 20 Milliarden Euro im Jahr ausmacht.

Unions-Fraktionschef Friedrich Merz will Kanzler Scholz keinen Blankoscheck für die Bundeswehr ausstellen.
Unions-Fraktionschef Friedrich Merz will Kanzler Scholz keinen Blankoscheck für die Bundeswehr ausstellen.

© Michael Kappeler/dpa

Die Ampel-Koalition will zwar die Zwei-Prozent-Quote erreichen, aber mit Einbeziehung von Geld aus dem Sondervermögen. Scholz geht nicht weiter auf Merz‘ Attacken ein, liest stur sein Manuskript ab, verspricht dem „lieben Herr Merz“ aber, dass man auf die Union gehen und sich eng abstimmen werde.

Dass Scholz in den Reihen ein zunehmendes Problem bekommen könnte, zeigt sein eigener Fraktionschef Rolf Mützenich. Er war am Abend vor jener „Zeitenwende“ Regierungserklärung am 27. Februar nicht im Bilde, dass es um 100 Milliarden Euro Sondervermögen gibt, Scholz heckte das im kleinen Kreis aus.

„Die SPD ist nach wie vor der Meinung, dass zur Kriegsverhinderung mehr gehört, als immer größere Rüstungsausgaben“, sagt Mützenich. Und gar nicht gehöre dazu, „nachfolgenden Generationen vorzuschreiben, wie hoch die zu sein haben, wie die Union es will.“  In der Union wächst der Unmut, zumal das Sondervermögen wohl ohnehin nicht komplett der Bundeswehr zugute kommen soll, um sie besser auszurüsten.  Mützenich betont: „Ohne Parlamentskontrolle gibt es keine demokratische Sicherheitspolitik.“ Bei der Verausgabung werde man immer mitreden.

Wie weit geht Wladimir Putin?
Wie weit geht Wladimir Putin?

© via REUTERS

Dritte Erkenntnis: Der Kanzler will auf mehr Abschreckung setzen

Putin und seiner Dialogkulisse trauen sie nicht mehr. Auch im Kanzleramt wissen sie schlicht nicht, wo all das enden wird. Putin stoppen, aber wie?

Das wird auch das zentrale Thema ab Donnerstag beim Nato-Sondergipfel sein, danach wird US-Präsident Joe Biden demonstrativ Polen besuchen. Zudem gibt es in Brüssel unter deutscher Führung einen G7-Gipfel und auch noch einen EU-Gipfel.

„Geschlossen wie nie werden wir in den kommenden Monaten die Verteidigungsfähigkeit der NATO stärken. Und geschlossen wie nie werden wir im Europäischen Rat (…)  eine neue europäische Sicherheitsstrategie annehmen – den Strategischen Kompass“, betont Scholz. „Damit gehen wir einen weiteren Schritt in Richtung europäischer Souveränität.“

Scholz ist in einer komplizierten Rolle. Keine Panik schüren, aber auch Putin nicht so in die Enge treiben, dass er, wo er ohnehin nichts mehr zu verlieren hat, zum Äußersten greift. Auch deshalb macht er klare Ansagen im Bundestag: Keine Flugverbotszone, bei der russische Kampfflieger über der Ukraine abgeschossen werden müssten, auch keine Nato-Friedenstruppen.

„Tag für Tag erreichen mich Hunderte besorgter Briefe und E-Mails. Überall, wo man derzeit mit Bürgerinnen und Bürgern spricht, begegnet einem früher oder später die Frage: Wird es Krieg geben, auch hier bei uns?“, berichtet der Kanzler.  „Auf diese Frage kann es nur eine Antwort geben: Die NATO wird nicht Kriegspartei – da sind wir uns mit unseren europäischen Verbündeten und den Vereinigten Staaten einig. Das ist ein Gebot der Vernunft.“ Aus Moskau wissen sie, je härter der Widerstand, desto brutaler reagiert Putin.

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Robert Habeck, und Olaf Scholz in der Generaldebatte im Bundestag.
Robert Habeck, und Olaf Scholz in der Generaldebatte im Bundestag.

© IMAGO/Jens Schicke

Vierte Erkenntnis: Die Atom-Option sollte erstgenommen werden

In diesen Tagen empfiehlt sich ein Blick darauf, was im russischen Staatsfernsehen diskutiert wird. Der Ton aggressiv, der Inhalt verstörend. „Das wird ein nuklearer Krieg“, sagt einer der Diskutanten zur Hauptsendezeit. „Ihr mutigen Polen, da wird in 30 Sekunden nichts mehr übrig sein von Warschau.“ Litauen wird ebenso bedroht, genauso Deutschland, zudem geht es um einen direkten Korridor zur zwischen Litauen und Polen gelegenen russischen Exklave, wo ein gewaltiges Arsenal an Rakete stationiert ist, die die Mitte Europas in wenigen Minuten erreichen.

Scholz hat sich vor seinem Moskau-Besuch bei Wladimir Putin – eine gute Woche vor Kriegsbeginn – mit Fiona Hill beraten, die George W. Bush, Barack Obama und auch Donald Trump in Sicherheitsfragen beraten hat und eine ausgewiesene Russland- und Putin-Kennerin ist.

Sie sieht die Welt längst in einem Dritten Weltkrieg. „Die Menschen sollten sich nicht der Illusion hingeben, dass wir kurz vor etwas stehen. Wir sind schon ziemlich lange dabei“, sagte sie jüngst dem Portal „Politico“. Die Atom-Option liege auf dem Tisch und der Weste tue gut daran, auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein. „Die Sache mit Putin ist, wenn er ein Instrument hat, will er es auch benutzen“, so Hill.

Fünfte Erkenntnis: Eine neue Weltordnung und das kleinere Übel

SPD-Fraktionschef Mützenich ist es, der eine Weltkarte im Bundestag hochhält, rot eingefärbt all die Staaten, die den russischen Angriffskrieg in den Vereinten Nationen nicht verurteilt oder sich enthalten haben – die Hälfte der Weltbevölkerung machen sie aus.

„Wer mit strategischem Blick auf die Landkarte Europas schaut, der muss doch alles daransetzen, dass wir die Länder des Westlichen Balkans unterstützen, damit sie möglich bald der Europäischen Union beitreten können“, betont der Kanzler, dass rasche die EU sich vergrößern muss. Hinzu kommen kaum auszuhaltende Dilemmata in diesen Tagen.

Die Grünen versuchen in Person von Wirtschaftsminister Robert Habeck, die Fehler der besonders von Union und SPD ausgebauten Abhängigkeit von russischem Gas, Öl und Kohle, im Eilverfahren zu beheben. Und dafür auch auf Flüssiggas aus Katar für den Übergang setzen, weshalb sie sich im Bundestag an diesem Tag einiges vorwerfen lassen müssen.

Vor allem von den langjährigen Russland-Anhängern bei AfD und Linkspartei. „Der eine Autokrat muss runter vom Platz und der andere kommt auf den Platz“, meint Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch. Die heutige Außenministerin Annalena Baerbock habe noch vor einigen Monaten der Boykott der WM in Katar gefordert. „Was für eine Doppelmoral“.

Immerhin schafft es Bartsch, einen für seine Partei bemerkenswerten Satz zu sagen: „Dieser Angriff hat einen Präsidenten zum Kriegsverbrecher gemacht.“ Realpolitik in Kriegszeiten, es bleibt kein Stein auf dem Anderen, auch nicht in Berlin.

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