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Die Krise in der Ukraine: Weitere Todesopfer von Flug MH17 geborgen

Zum ersten Mal haben Experten und OSZE die Absturzstelle der abgeschossenen Maschine MH17 einen ganzen Tag lang untersuchen können. Doch dann vertrieben neue Kämpfe die Experten.

An der Absturzstelle der malaysischen Passagiermaschine in der Ostukraine haben Experten mit Spürhunden am Samstag weitere Leichenteile geborgen. Von dort sollten sie am Sonntag in die ostukrainische Stadt Charkow gebracht werden, wie der Leiter der Gebietsverwaltung, Igor Baluta, sagte. Nach Angaben der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) waren insgesamt fast 80 internationale Experten an dem Trümmerfeld im Ort Grabowo im Einsatz. Inzwischen können sie weitgehend ungehindert arbeiten. Der Einsatz am Samstag sei der erste vollwertige seit einem Zugang zu dem Gebiet am 25. Juli gewesen, teilte die OSZE mit.

Am Nachmittag mussten die internationalen Experten einen Teil der von ihnen abgesuchten Absturzstelle wegen Artilleriebeschusses verlassen müssen. Wie die OSZE mitteilte, waren in einer Entfernung von etwa zwei Kilometern Artillerieschüsse zu hören. Die Schüsse hätten den Boden erschüttert, sagte der Vize-Chef der Ukraine-Mission der OSZE, Alexander Hug. Das Risiko sei zu groß gewesen. Hug bekräftigte, die prorussischen Separatisten hätten den Zugang der Experten aus den Niederlanden und Australien zu der von ihnen kontrollierten Zone akzeptiert. Es sei derzeit noch zu früh, um festzustellen, ob der regionale Waffenstillstand in dem Gebiet gebrochen worden sei.

Ukrainische Armee meldet militärische Erfolge

In den umkämpften Gebieten Donezk und Lugansk spitzte sich die Lage weiter zu. Regierungstruppen nahmen nach eigener Darstellung im Raum Donezk die Orte Krasnogorowka und Staromichailowka unter ihre Kontrolle. Sie schnitten damit erstmals die Separatistengebiete Lugansk und Donezk voneinander ab, wie Medien in Kiew berichteten.

In der Großstadt Lugansk berichteten die Behörden von einem völligen Stromausfall. Es gebe kein Licht, kein Wasser und keinen Mobilfunk. „Lugansk liegt unter totaler Blockade und Isolation“, sagte Bürgermeister Sergej Krawtschenko einer Mitteilung zufolge. Durch den tagelangen Beschuss sei viel Infrastruktur zerstört, darunter das städtische Klinikum und viele Wohnhäuser. Die Lage sei kritisch und am „Rande einer humanitären Katastrophe“, hieß es. „Was heute in Lugansk geschieht, lässt sich nur schwer eine Anti-Terror-Operation nennen. Das ist ein ganz und gar echter Krieg“, teilte die Stadtverwaltung mit.

Auch in Donezk waren erneut Explosionen und Gefechtsfeuer zu hören, wie die von den Separatisten geführte Agentur Novorossia meldete. Unabhängige Berichte gab es nicht. Die von den USA und der EU unterstützte Regierung in Kiew will den Kampf in der Region fortsetzen, bis diese „befreit“ sei.

Poroschenko will mehr Geld für das Militär

Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko setzte dazu ein neues Militärbudget in Kraft. Demnach werden nun elf Milliarden Griwna (657,8 Millionen Euro) zusätzlich für den Einsatz bereitgestellt. Ein Teil des Geldes sei auch für den Wiederaufbau zerstörter Infrastruktur sowie für die Umsiedlung von Bürgern bestimmt.

Zur Finanzierung setzte Poroschenko einen Parlamentsbeschluss offiziell in Kraft, nach dem von nun an bis zum 1. Januar 2015 eine Kriegssteuer erhoben wird. Sie beträgt 1,5 Prozent des monatlichen Einkommens. Die Oberste Rada hatte am Donnerstag auch andere Steuererhöhungen beschlossen. Zudem wurden die Ausgaben für Kommunen und die Abgeordnetendiäten vorübergehend massiv gekürzt.

Steinmeier will weiter vermitteln

Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) hat seine Vermittlungsstrategie in der Ukraine-Krise verteidigt und davor gewarnt, den Gesprächsfaden zu Russland vollständig abreißen zu lassen. Das Vertrauen zwischen Berlin und Moskau sei "ohne Zweifel schwer beschädigt", die Fortsetzung der Verhandlungen mit Russland aber trotzdem kein Zeichen von "Blauäugigkeit", entgegnete Steinmeier schriftlich auf Fragen der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung". Schließlich müsse jedem klar sein, "dass ohne Moskaus Zutun eine politische Lösung des Ukrainekonflikts kaum oder schwer möglich sein wird".

Russland gibt der EU eine Mitschuld

Russland hat der Europäischen Union eine Mitverantwortung am Blutvergießen in der Ostukraine gegeben. Die EU habe im Zuge ihrer Unterstützung für die proeuropäische Regierung in Kiew ein im Februar erlassenes Exportverbot für Spezialausrüstung und Militärgüter „heimlich“ wieder aufgehoben, kritisierte das Außenministerium in Moskau am Samstag. Das im Winter während der Massenproteste auf dem Maidan erlassene Embargo sei ungeachtet der Militäroperation im Osten der Ukraine annulliert worden, hieß es.

Ein Sprecher der EU-Außenbeauftragten Catherine Ashton bestätigte am Abend in Brüssel die Aufhebung des seinerzeit beschlossenen Ausfuhrverbots für Materialien, die für die Unterdrückung der Bevölkerung eingesetzt werden können. Dies habe der Europäische Rat am 16. Juli beschlossen - und zwar „öffentlich, nicht wie behauptet heimlich.“ Ein Waffenembargo für die Ukraine habe es nie gegeben.

Russland forderte die EU auf, das Verbot wieder in Kraft zu setzen. „Anderenfalls wird die Verantwortung der Europäischen Union für das fortdauernde Blutvergießen im Südosten der Ukraine wachsen“, hieß es in der Mitteilung. Die EU verletze ihre selbst gesetzte Regel, keine Kriegstechnik und Ausrüstung in Länder zu exportieren, in denen damit bewaffnete Konflikte provoziert oder vertieft werden könnten.

Zugleich kritisierte das Außenamt in Moskau, dass Brüssel bisher nicht auf den wiederholten Beschuss russischen Staatsgebiets von ukrainischer Seite aus reagiert habe. Der Inlandsgeheimdienst FSB teilte mit, dass das Gebiet Rostow im Süden Russlands am Samstag erneut mehrfach von ukrainischer Seite aus beschossen worden sei. Verletzte habe es aber nicht gegeben.

Demonstranten in Moskau fordern Einmarsch in die Ukraine

Hunderte Russen haben bei einer Kundgebung in Moskau Kremlchef Wladimir Putin zu einem raschen militärischen Eingreifen im Ukraine-Konflikt aufgerufen. „Einmarsch der Truppen!“ und „Putin, rette den Donbass!“, skandierten die Menschen am Samstag in der Nähe des Olympia-Stadions. Unter den Protestierenden waren zahlreiche russisch-orthodoxe Geistliche, Kosaken sowie Ultranationalisten. Etwa 20 patriotische Organisationen hatten zu der Kundgebung für die Unterstützung des umkämpften Gebiets Donbass in der Ostukraine aufgerufen.

Russische Hilfsorganisationen rufen seit Tagen dazu auf, die Bevölkerung in den nicht anerkannten „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk mit Spenden zu unterstützen. An vielen Stellen in Moskau stehen dafür Zelte mit durchsichtigen Urnen für das Bargeld.

Präsident Putin sieht sich im eigenen Land immer lauteren Vorwürfen ausgesetzt, er schaue tatenlos zu, während ukrainische Regierungstruppen mit Luftwaffe und Panzern auch gegen die russische Minderheit vorgingen. Der ultrakonservative Ideologe Alexander Dugin sagte auf der Kundgebung: „Unsere russischen Mitbürger im Donbass können den Angriffen nicht mehr lange standhalten. Nur eine Armee kann mit einer Armee kämpfen.“

Letzte unabhängige Fernsehshow eingestellt

Eine Fernsehshow, die als die letzte unabhängige Sendung im russischen Fernsehen galt, ist abgesetzt worden. Die wöchentliche Politiksendung von Marianna Maximowskaja sei überraschend vom Fernsehsender Ren TV ohne Angabe von Gründen aus dem Programm genommen worden, sagten Mitarbeiter am Samstag. Der Journalist Roman Super schrieb, die Mitarbeiter hätten davon erst am Freitag erfahren. Was mit ihnen geschehe, sei
unklar. Die Gründe für den Schritt seien "zu offensichtlich, um kommentiert zu werden", schrieb Super.

Ren TV ist der letzte landesweite Fernsehsender Russlands, der als weitgehend unabhängig gilt. Die Sendung von Maximowskaja war eines seiner Aushängeschilder. Die 44-jährige Journalistin wagte es, Dissidenten und Kremlkritiker wie Michail Chodorkowski zu interviewen. Neben dem Internetsender Dozhd, dem Radiosender Moskauer Echo und einigen Zeitungen bot Ren TV Kritikern die Möglichkeit, ihre Meinung öffentlich zu äußern.
Im Zuge der Ukraine-Krise hat sich der Druck auf unabhängige Medien in Russland aber noch einmal verschärft.

Kritiker sehen die Berichterstattung über die Ukraine als einseitig und parteiisch. Beobachtern zufolge ist in der derzeitigen, zunehmend nationalistischen und anti-westlichen Stimmung kein Platz mehr für die differenzierte Berichterstattung von Maximowskaja. "Es war die letzte Sendung, die die Leute schauten, um zu erfahren, was in der vergangenen Woche passiert ist, um nicht von Rossija und dem Ersten Kanal vergiftet zu werden", sagte die Medienexpertin Galina Timtschenko mit Blick auf zwei führende staatlich kontrollierte Sender. (dpa/AFP/Reuters)

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