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Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) bei "Brigitte Live".

© dpa

Die Kanzlerin der Wenden: Welche Werte leiten Angela Merkel?

Merkels Anspruch ist nicht inhaltliche Führung, ihr reicht die Macht. Das gilt auch beim Thema Ehe für alle.

Bei der letzten Sitzung des Bundestags vor der Wahl im September kann eine gesellschaftlich bisher sehr umstrittene Reform beschlossen werden: die Ehe für alle. Vor allem die Union hat sich lange dagegen gesträubt und eine Parlamentsentscheidung immer wieder blockiert, bis Bundeskanzlerin Angela Merkel in einer Talk-Runde von einer Gewissensentscheidung sprach und damit eine überraschende Öffnung vollzog.

Aus welchen Motiven hat Merkel die Entscheidung getroffen?

Fast ist man geneigt zu sagen: aus ihren üblichen. Jedenfalls sehen sie das in der Union bis hinein in die Spitze so. Die Bundeskanzlerin ist ja nicht bekannt dafür, bei strittigen Themen voranzugehen. Sie wartet gemeinhin erst einmal ab, wohin sich die Mehrheit orientiert. Der Spruch eines Franz-Josef Strauß, wonach der Konservative an der Spitze des Fortschritts zu marschieren habe, um ihn kontrollieren zu können, trifft auf Angela Merkel nun mal eher nicht zu. Wie man bisher bei noch allen herausragend wichtigen Themen ihrer Kanzlerschaft sehen konnte.

Dabei hat es schon ganz schön viele Kehrtwenden gegeben. Nicht alle unerklärlich, aber lange unerklärt, und wenn, dann haben es andere für sie übernommen, haben also sie und ihr Handeln interpretiert. Wehrdienst, Atomausstieg. Euro-Krise, Flüchtlinge, jetzt die Ehe für alle – da müssen die Unionsmitglieder sehen, wie sie hinterherkommen.

Letzteres wird allerdings noch einiges an Schweiß kosten. Denn die Unruhe reicht von der Basis bis hin zum Vorsitzenden der Unionsfraktion. Wann hat es das jemals gegeben, dass der – gerade er, Volker Kauder – der Chefin das Procedere für alle erkennbar, innen wie außen, übel nimmt?

Schon das zeigt, dass die Sache nur vordergründig abgestimmt war. Am Montag im Bundesvorstand hatte sie eine Formulierung angekündigt, mit der sich das Thema im Wahlkampf „elegant“ umschiffen lassen würde. Denn Merkel wollte nicht isoliert erscheinen, nachdem auch die FDP – nach Grünen, Linken und der SPD – die Ehe für alle zur Voraussetzung für eine Koalition gemacht hatte. Die Formel von der Gewissensentscheidung sollte allerdings erst in den kommenden Wochen publik werden. Dann kam der Auftritt im Berliner Gorki-Theater mit Gästen der „Brigitte“-Redaktion. Und der Frage, wie sie es, die Frau Bundeskanzlerin, denn nun mit der Ehe für alle halte.

Welche Folgen hat die Kehrtwende für den Bundestagswahlkampf?

Unabsehbare. Natürlich kann Merkel sich und anderen sagen, dass sie auf die 20.000 Superkatholiken gut verzichten kann, weil sie ja dafür mit der Kurskorrektur weit ausgreift in die Mitte der Gesellschaft. Dem folgt sogar der eine oder andere Abgeordnete, der ansonsten gegen das Thema Ehe für alle war und ist.

Nur ist andererseits für etliche der Zeitpunkt völlig unverständlich.

Warum ausgerechnet in der letzten Sitzungswoche des Bundestages? Warum der politischen Konkurrenz die Chance eröffnen, die Ehe für alle in letzter Minute durchzudrücken? Warum schon jetzt die Position preisgeben und damit das Faustpfand aufgeben, das man in Koalitionsverhandlungen noch hätte gut gebrauchen können? Und warum die Abgeordneten überrumpeln und sie daheim, in ihren Wahlkreisen, in Erklärungsnot bringen?

Das bleibt hängen, aber nicht nur in den Kleidern: 30 Mal im Rechtsausschuss abgelehnt, mehr als 30 Mal darauf hingewiesen, dass eine Grundgesetzänderung nötig wäre, unzählige Mal erklärt, warum dieses Nein keine Diskriminierung der gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaft darstellt, sondern nach wie vor eine Differenzierung: Nämlich weil die Ehe das auf Dauer angelegte Zusammenleben von Mann und Frau sei, eine wertentscheidende Grundsatznorm für eine bestimmte Form des menschlichen Zusammenlebens mit gewissermaßen programmatischem Charakter. Und weil, wie die Union immer wieder argumentiert hat, Ehe und Familie Sozialstrukturen sind, auf die der Staat für sein physisches Fortbestehen, seine ethische und kulturelle Substanz und seine volkswirtschaftliche Wohlfahrt angewiesen sei.

Von dieser Argumentation wegzukommen, wird schwierig. Von einer „Gewissensentscheidung“ zu reden, aus Sicht einiger Unionsabgeordneter, die sich bereits geäußert haben, noch schwieriger. Denn aus deren Sicht hat Merkel eine „Umwertung der Werte“ vorgenommen. Wenn sie das Thema abräumen wollte, so hat die Kanzlerin doch ein neues eröffnet: Was treibt sie, außer Machterhaltung? Hat sie einen unveräußerlichen christlich-demokratischen Kern, und wenn ja, worin besteht der? Ein Punkt, der sie treffen wird: Ausgerechnet an dem Tag, an dem die Union eine Trauerfeier für Helmut Kohl abhält, ihren pater familias und erklärten Familienpolitiker, kommt sie der Partei mit diesem Thema.

Welche Bedeutung hat der Schritt für das Selbstverständnis der Union?

Große. Vielleicht nicht heute, nicht morgen, aber gewiss dann, wenn Merkel schwächer wird, wird die CDU sich und ihre Führung fragen, was von der Partei eigentlich noch übrig ist, wenn sie nicht mehr regiert; und wenn Merkel auch die CDU nicht mehr regiert. Im Ursprung grün-linke Politik, zu der die Ehe für alle gezählt wird, ist ja jetzt schon nicht allein für den konservativen Berliner Kreis der CDU ein Stachel im Fleisch. Auch Abgeordnete, die sich der – seinerzeit – modernen „Christlichen Gesellschaftslehre“ des Kardinals Joseph Höffner verpflichtet fühlen, zweifeln. Bei denen hatte Merkel ihre Idee zuvor getestet.

Womöglich allerdings findet, bis Merkel aufhört, ein Austausch der Unionsmitglieder statt. Wo nur noch zwei Abgeordnete der Christlich-Sozialen Union regelmäßig bei der in Berlin stattfindenden katholischen Messe für Parlamentarier gesichtet werden, stellt sich ja die Frage, wie sehr das „C“ in ihrem Titel die Unionsparteien überhaupt noch trägt.

Hinzu kommt: Selbst wenn die CDU litte, an Merkel und an sich, so ist sie doch die Kaderpartei, von der sie immer behauptet hat, dass es die SPD sei. Keine Partei ist ihrer Führung gegenüber so gehorsam wie die CDU. Sie ist der Kanzlerwahlverein, der die SPD nie auch nur ansatzweise war. Insofern ist mit einem richtigen Aufbegehren nicht zu rechnen. Und darauf kann Merkel zählen.

Was sagt das alles über die Politikerin Merkel aus?

Dass sie mehr, als die Menschen glauben wollen, situativ entscheidet, intuitiv, impulsiv. Dass sie sich mancher Gefahr, die große Inhaltlichkeit bietet, nicht aussetzen will. Nicht mehr. Vor mehr als einem Jahrzehnt, da hatte sie diese Anwandlung, in Leipzig 2003, als sie auf dem Parteitag die „Maggie Merkel“ gab, die „Angie Thatcher“. Aber das ist lange vorbei, von den meisten vergessen. Ist heute eine Agenda 2030 mit ihr vorstellbar, eine, die sie vertritt bis zum Letzten? Vielmehr ist es so, dass sie sich dann, wenn es funktioniert, die Agenda zu eigen macht. Und für sie funktioniert es ja auch.

Merkels Anspruch ist nicht inhaltliche Führung, ihr reicht die Macht. Das wissen die Menschen. Sie kennen sie, frei nach einem Ausspruch von ihr selbst. Sie trägt ihren Anspruch halt nicht deutlich vor sich her, ihr Machtwille ist bemäntelt, sie behelligt nicht alle damit. Das ist der Mehrheit ja eher angenehm. Und der Mehrheit in der CDU ist die Mehrheit bei Wahlen angenehm.

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