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Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts mit dem Vorsitzenden Stephan Harbarth, dritter von links.

© Uli Deck/dpa

Die Justiz fährt wegen des Coronavirus runter: Das Grundgesetz wird nun im Schichtdienst überwacht

Nach den Gerichten in den Ländern machen auch die Bundesgerichte zu. Aber drinnen soll es weitergehen. Ganz ohne Öffentlichkeit geht es aber nicht.

Die Justiz pflegt langsamer zu reagieren als andere, aber sie reagiert. Nach und nach melden Gerichte Einschränkungen wegen des Coronavirus. Erst in den Ländern, dann auch im Bund. Ein „Dienstbetrieb unter Einschränkungen“ werde fortgeführt, heißt es aus dem Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe am Mittwoch. Termine zu mündlichen Verhandlungen würden aufgehoben, soweit die Verfahren nicht eilbedürftig seien.

Auch das Bundesverfassungsgericht hat seine einzige für März angesetzte Urteilsverkündung in den Mai verlegt. Es geht um Anleihekaufprogramme der Europäischen Zentralbank (EZB) und den Vorwurf verdeckter Staatsfinanzierung – ein Urteil, das neue Relevanz bekommen könnte, wenn die EZB angesichts der wirtschaftlichen Situation in den Mitgliedstaaten wiederum in den Krisenmodus schaltet.

Urteil zur Europäischen Zentralbank ist abgesagt

Man hatte sich dort bis zuletzt bemüht, den Termin zu halten. Doch nun beschränken sich auch die Karlsruher Verfassungshüter nur noch auf das Notwendige. Reisen und Besuche ausländischer Delegationen seien vorerst bis Ende April abgesagt, teilte ein Sprecher mit. Die IT-Ausstattung befähige die Mitglieder der beiden Senate aber, von zuhause aus zu arbeiten.  Es werde ein Zwei-Schichten-System eingeführt, um krankheitsbedingte Ausfälle aufzufangen.

Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig hatte bereits am Dienstag eine Pause bis 19. April angekündigt und die Türen für die Öffentlichkeit geschlossen. Es gebe nur einen „Notbetrieb“, dennoch könnten Anträge, Klagen und Schriftsätze auf gewohntem Wege eingereicht werden. Eine Bearbeitung sei sichergestellt.

Unabhängigkeit bedeutet auch Verantwortung für den eigenen Betrieb

Am Europäischen Gerichtshof in Luxemburg werden noch an diesem und dem Donnerstag in einer Woche Urteile verlesen; die Gebäude sind aber jetzt schon für Besucher und Mitarbeiter verschlossen. Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg hat alle Anhörungen für März und April gestrichen.

Hintergrund über das Coronavirus:

In Deutschland sind die Justizverwaltungen in Bund und Ländern mit Ansagen zurückhaltend. „Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen“, heißt es im Grundgesetz. Das gilt grundsätzlich zwar nur für ihre Rechtsprechungstätigkeit. Aber man respektiert, dass zu dieser Unabhängigkeit ein gewisses Maß an Selbstorganisation und Handeln in eigener Verantwortlichkeit gehört.

Anwältinnen und Anwälten reicht dies mitunter nicht. Sie fordern klare Linien und vor allem, im Sinne ihrer Mandantschaft, großzügigere Fristen. So regte etwa der Deutsche Anwaltverein (DAV) an, auf Paragraf 245 der Zivilprozessordnung zurückzugreifen, der eine Verfahrensunterbrechung durch „Stillstand der Rechtspflege“ anordnet.

Ein Krieg würde Unterbrechungen erlauben

Voraussetzung allerdings wäre, dass ein „Krieg oder ein anderes Ereignis“ die Tätigkeit der Justiz tatsächlich beendet. Naturkatastrophen und Epidemien gelten ausweislich der Kommentarliteratur als Ereignis im Sinne dieser Vorschrift. Dennoch gibt es bisher keinen Stillstand. Der Deutsche Richterbund betonte am Mittwoch, dass es den auch nicht geben soll, selbst wenn der Zugang zu den Gerichten „auf ein Minimum“ heruntergefahren würde. Die Justiz erfülle weiter ihre Kernaufgaben und sei in der Lage, eilbedürftige Entscheidungen zu treffen, hieß es in einer Mitteilung.

Der rechtsstaatlich empfindlichste Bereich ist die Strafrechtspflege. Insbesondere Verfahren, bei denen Verdächtige in Untersuchungshaft sitzen, müssen durchgezogen werden. Das gerät angesichts hoher Fallzahlen ohnehin öfter aus dem Blick; immer wieder werden Fälle öffentlich, in denen sich Gerichte wegen überlanger U-Haftdauer für eine Freilassung entscheiden.

Besonders ärgerlich ist es, wenn strafrechtliche Hauptverhandlungen schon länger laufen, dann aber auf unbestimmte Zeit unterbrochen werden müssen. Grundsätzlich gilt hier laut Strafprozessordnung (StPO) eine Höchstfrist von drei Wochen. In Fällen von Krankheit oder Mutterschutz kann das auf zwei Monate verlängert werden. Werden die Fristen überschritten, muss die Verhandlung von vorne beginnen, einschließlich der Beweisaufnahme mit Zeuginnen und Zeugen.

Die Justizministerin will Strafverfahren mehr Zeit geben

Hier soll es nun mehr Flexibilität geben, kündigt Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) an. Derzeit werde eine gesetzliche Regelung vorbereitet, die es ermögliche, Hauptverhandlungen für maximal drei Monate und zehn Tage zu unterbrechen. Allerdings ist es ein rechtsstaatliches Erfordernis, Belastungen für einen – möglicherweise im Ergebnis unschuldigen – Angeklagten so gering wie möglich zu halten. Die neuen Fristen sollen deshalb nur greifen, wenn der Gerichtsbetrieb wegen Infektionsschutzmaßnahmen tatsächlich eingeschränkt ist oder Personen aus Risikogruppen beteiligt sind. Möglich, dass die Vorschrift später wieder verschwinden soll. Lambrecht machte deutlich, dass sie auf die „aktuellen Maßnahmen“ zum Infektionsschutz abstellen soll.

Fest steht, dass die Justiz auf Öffentlichkeit nicht verzichten kann. Verhandlungen und die Verkündung von Urteilen haben öffentlich stattzufinden, so schreibt es das Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) vor. Anders können Urteile „im Namen des Volkes“ in einem demokratischen Verfassungsstaat nicht ergehen. Zwar könnte ein Vorsitzender im Rahmen seiner Sitzungsleitung Anordnungen zum Infektionsschutz treffen und beispielsweise die Zahl der Zuschauer begrenzen. Aber dies darf nicht zu einem Ausschluss der Öffentlichkeit führen. Der ist nur ausnahmsweise möglich, etwa zum Schutz von Jugendlichen oder traumatisierten Opfern, denen auf diese Weise eine Aussage erleichtert werden soll. Den Zutritt zu einer Verhandlung nur wegen des Virus und seiner Übertragbarkeit zu blockieren, würde jedes später ergangene Urteil angreifbar machen.

Womöglich könnte die Situation ein älteres Modell wiederbeleben: Die Gerichtsferien, wie sie von den fünfziger Jahren bis zur Mitte der Neunziger in der Bundesrepublik in den späten Sommerwochen bis Mitte September üblich waren – wegen der Erntezeit. Verhandelt wurden nur so genannte dringliche Feriensachen, wozu alle Strafverfahren gehörten. Nun nähert man sich diesem Zustand wieder an.

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