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Volkspartei. Wahlwerbung der SPD in der Kleingartenanlage Kastanienhain in Unna.

© imago/Manngold

Die Illusion einer Volkspartei: Das Mitgliedervotum kann die SPD nicht retten

Der Bedeutungsverlust der SPD hat wenig mit Führungsversagen zu tun. Die Wähler interessieren sich für andere Themen – von grün bis populistisch. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Anna Sauerbrey

Am Samstagabend wird die SPD verkünden, welches Kandidatenduo nach dem Willen der Mitglieder in Zukunft die Partei führen soll. Wahrscheinlich folgt eine Stichwahl. Sechs Paare stehen zur Auswahl, aber eigentlich nur zwei verschiedene Zukunftserzählungen.

Das Lager der Etabliert-Vernünftigen rechnet Folgendes vor: Mit den erfahrenen und grundsoliden Parteivorsitzenden Olaf Scholz und Klara Geywitz könnte die Partei ihre Regierungsarbeit fortsetzen und hätte auch gleich einen Kanzlerkandidaten, der im Rennen gegen eine herumstolpernde CDU-Frontfrau Annegret Kramp-Karrenbauer und den idealistischen Grünen Robert Habeck eine Chance hätte.

Also weitermachen. Das Sturm-und-Drang-Lager hält dem entgegen, nur das Neue, Leidenschaftliche, Radikalere könne die Partei retten – und womöglich ein Ausstieg aus der Groko.

In Wahrheit ist es unerheblich, wie es ausgeht. Das Mitgliedervotum ist allenfalls ein Krisensymptom der europäischen Sozialdemokratie. Die strategische Kernfrage sparen alle Kandidaten aus.

Im Schnitt ist der Stimmenanteil sozialdemokratischer Parteien europaweit in den vergangenen Jahrzehnten von einem Drittel auf ein Fünftel geschrumpft. Dabei bleibt der Anteil von Mitte-links-Wählern in Europa konstant – nur bekommen die Sozialdemokraten immer weniger vom Kuchen ab. Das liegt nach Ansicht vieler Sozialforscher weniger am Regieren oder am Führungsversagen.

Die Menschen bewegen andere Themen

Sondern an grundlegenden Verschiebungen in den Themen, die die Menschen bewegen. In der Nachkriegszeit polarisierten wirtschaftliche Ungleichheit und Klassendenken die Gesellschaften. Heute stehen kulturell liberale Globalisten den Heimatverbundenen gegenüber, die sich als Verlierer der Globalisierung sehen. Diese neue Konfliktlinie, die sich in der Klimapolitik ebenso zeigt wie in der Migrationspolitik, verläuft mitten durch die einstige Wählerschaft europäischer Volksparteien und hat viele Wähler zu „spezialisierteren“ Parteien abwandern lassen, von grün bis populistisch.

Die herben Verluste führten in vielen Sozialdemokratien Europas zu Richtungskämpfen. Als Rettung wurden auch andernorts Urwahlen gesehen (manchmal offen für Nicht- oder Neumitglieder), die allerdings die Misere durch unorthodoxe Kandidaten teils nur verschärften. In Großbritannien gewann 2015 der radikale Zausel Jeremy Corbyn eine solche Abstimmung – und führte die Labour-Partei erst zu ungeahnten Erfolgen und dann ins Chaos. In Frankreich gewann der Sozialist Benoit Hamon 2017 die Präsidentschaftskandidatur der Parti Socialiste, aber nur 6,4 Prozent bei der Wahl.

In der SPD scheint es eher unwahrscheinlich, dass sich ein Anti-Establishment-Kandidat durchsetzt. Die Mitglieder gelten als gemäßigter und sind vor allem älter als die Aktivisten, die Olaf Scholz und Klara Geywitz bei der Roadshow den Applaus verweigerten.

Das Problem der SPD wird sein, dass keiner der Kandidaten bereit ist, die tektonischen Verschiebungen in der Polarisierung der Gesellschaft in eine Strategie umzusetzen und zu klären, auf welcher Seite die SPD stehen will: Ist sie eine sozialere, grüne Partei für Globalisierungsgewinner? Oder will sie Globalisierungsverlierer vor den Zumutungen der Klimapolitik und der Zuwanderung schützen? Beide Lager geben sich der Illusion hin, weiter „Volkspartei“ sein zu können. Doch „eine für alle“ funktioniert nicht mehr.

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