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r FUkrainische Flüchtlinge, die aus der Republik Moldau per Flugzeug nach Deutschland kamen. Foto vom 5. Mai 2022.

© Roberto Pfeil/dpa

Die Grenzen der Aufnahmebereitschaft: Türkische Lektionen für den Umgang mit Ukraine-Flüchtlingen

Die aktuelle Willkommenskultur liege auch an der Ähnlichkeit der Menschen, heißt es. An der türkisch-syrischen Grenze zeigt sich, wie kurz das greift. Ein Gastbeitrag.

- Friedrich Püttmann ist Gastwissenschaftler an der Denkfabrik Istanbul Policy Center und promoviert an der London School of Economics zur Integration syrischer Geflüchteter in der Türkei.

Mehr als 600 000 Fliehende aus der Ukraine sind nach Zahlen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge inzwischen in Deutschland angekommen. Quer durch Europa zeigt sich eine enorm hohe Bereitschaft in der Bevölkerung, sie aufzunehmen. Ob in Polen, Belgien oder Deutschland: Viele Menschen engagieren sich und bieten sogar ihr privates Zuhause an. Derweil zeichnet sich ab, dass der Krieg noch eine Weile dauern könnte.

Der Politikberater und Vordenker des EU-Türkei-Flüchtlingsabkommens, Gerald Knaus, sprach daher bereits eine Warnung aus: „Der gute Wille lebt davon, dass die Situation nicht außer Kontrolle gerät.“ Wissenschaftliche Studien auf Grundlage der Flüchtlingskrise von 2015 in Griechenland stützen das. Und ein Blick in die Türkei zeigt, worauf es noch ankommt, damit der gute Wille nicht mit der Zeit versiegt.

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Die aktuell offenen Arme der Europäer und Europäerinnen gegenüber den Flüchtenden aus der Ukraine haben unter dem Motto „Gute Flüchtlinge, schlechte Flüchtlinge“ eine Debatte ausgelöst. Es geht dabei um den Vergleich mit den Flüchtlingen unter anderem aus Syrien, die in Europa weit weniger freundlich aufgenommen wurden. Für viele arabische Geflüchtete und Menschen außerhalb der EU ist die aktuelle Willkommenskultur auch Beleg für einen latenten Rassismus. Das ist nicht ganz abwegig: Zwar war das Engagement der Deutschen auch für die syrischen Flüchtlinge 2015 hoch, doch es war auch das Jahr des rasanten Aufstiegs der rechtsradikalen AfD.

Migrationszahlen in Abhängigkeit zur "kulturellen Distanz“?

Und Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán verhinderte 2016 die von Berlin und Brüssel initiierte Verteilung der syrischen Geflüchteten auf die gesamte EU vehement mit der Begründung, dass solche Quoten die „ethnische, kulturelle und religiöse Landkarte Ungarns und Europas neu zeichnen würden“.

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Tatsächlich hat der Harvard-Soziologe Robert Putnam auf Basis seiner Studien in den USA argumentiert, dass ethnische Vielfalt kurzfristig das Vertrauen innerhalb einer Gesellschaft vermindere und ihr damit nachhaltig schade, sollten keine neuen Formen der Solidarität geschaffen werden. Für den Oxforder Ökonomen Paul Collier ist das der Grund, warum Einwanderung nicht nur allgemein, sondern insbesondere in Abhängigkeit der „kulturellen Distanz“ der Migranten zur Aufnahmegesellschaft begrenzt werden sollte.

Syrische Flüchtlinge als "Glaubensbrüder"

Diese Thesen sind in der Wissenschaft stark umstritten, und den Umkehrschluss, dass religiöse und ethnische Gemeinsamkeiten ein nachhaltiges Solidaritätsmotiv seien, entlarvt nun das Beispiel der Türkei: Mit mehr als 3,6 Millionen registrierten Geflüchteten aus Syrien beherbergt die Türkei seit bald zehn Jahren die meisten Flüchtlinge der Welt. Präsident Recep Tayyip Erdogan spricht gerne davon, dass die syrischen Flüchtlinge „Glaubensbrüder“ seien und angesichts der gemeinsamen osmanischen Geschichte im Grunde zur Türkei gehörten.

Die Stimmung in der Kultur hat sich deutlich gewandelt

Tatsächlich bringen viele syrische Geflüchtete in der Türkei zum Ausdruck, dass sie sich den Türkinnen und Türken kulturell verbunden und in der mehrheitlich muslimischen Türkei beheimatet fühlen. Doch die türkische Gesellschaft sieht das ganz anders: Die anfängliche Aufnahmebereitschaft ist mit der Zeit einem Gefühl der kulturellen Bedrohung gewichen, und inzwischen hat sich die politische Stimmung in dem wirtschaftlich krisengebeutelten Land deutlich gewendet.

Syrische Flüchtlinge in der Türkei im April 2016.
Syrische Flüchtlinge in der Türkei im April 2016.

© REUTERS/Umit Bektas/File Photo

Eine große Mehrheit der Türkinnen und Türken verlangt die baldige Rückkehr der Geflüchteten nach Syrien – trotz des anhaltenden Krieges dort. Und zwar selbst unter jenen, die wie die Syrerinnen und Syrer Arabisch oder Kurdisch als Muttersprache sprechen oder sich als praktizierende Muslime verstehen.

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Der Grund dafür ist, dass sich zwar Gemeinsamkeiten zwischen Menschen von außen bestimmen lassen mögen, nicht aber das subjektive Empfinden von Ähnlichkeit. Ein gutes Beispiel dafür ist die türkische Stadt Sanliurfa, etwa 50 Kilometer von Syrien entfernt. Hier wohnen überwiegend tiefgläubige, kurdisch- und arabischstämmige Türkinnen und Türken. Spricht man mit ihnen über ihr Verhältnis zu den syrischen Geflüchteten, so geben viele an, dass die Syrerinnen und Syrer zwar wie sie selbst Muslime, Kurden oder Araber seien, aber eben „andere Muslime“ oder „andere Kurden“.

Im schlechtesten Fall eine Beleidigung

Das Narrativ der Ähnlichkeit ist daher für viele im besten Fall bedeutungslos, im schlechtesten Fall eine Beleidigung. Trotzdem helfen weiter viele Menschen den Geflüchteten, denn so mache man das nun mal als Muslim oder als Kurde. Nicht Gemeinsamkeiten, sondern Prinzipien motivieren sie.

Die Erkenntnis, die daraus erwächst, ist, dass wer die Aufnahme von Geflüchteten mit ihrer vermeintlichen Ähnlichkeit begründet, am Ende verliert – nicht nur moralisch, auch politisch. Denn wenn die Flüchtlinge erst einmal zur Last fallen, dann werden sie auch als „anders“ wahrgenommen werden. Wer also eine dauerhafte Aufnahmebereitschaft erzeugen möchte, der sollte diese stattdessen mit Bezugnahme auf das eigene Land und seine Werte begründen. Der sollte sagen: Wir schaffen das. Denn was für den guten Willen zählt, ist nicht die Identifikation mit den Schutzsuchenden, sondern die Identifikation mit dem Schützen.

Friedrich Püttmann

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