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In den zehn Tagen ohne Gas aus der Nord Stream 1 war aus Sorge zunehmend Panik geworden, wohl ganz im Sinne Putins.

© Montage: TSP/Schuber, Fotos: Hans Lucas via AFP, freepik

Die Gasstopp-Sorge bleibt: Putins scheinheiliges Spiel lässt Deutschland weiter bangen

Es fließt wieder etwas Gas durch Nord Stream 1, aber die deutsche Regierung wirkt machtlos. Sorgenvoll blickt man gen Winter. Was Robert Habeck nun plant.

Klaus Müller scheint sich den Wecker extra früh gestellt zu haben. Schon am frühen Morgen informiert der Präsident der Bundesnetzagentur via Twitter, was sich in der Gas-Pipeline Nord Stream 1 nach der zehntägigen Wartung tut. Bereits am Vortag hat der Grünen-Politiker und Vertraute von Wirtschaftsminister Habeck intensiv getwittert.

Gazprom habe angekündigt, 800 Gigawattstunden Gas zu liefern. Ein paar Stunden später wieder Müller auf Twitter. Gazprom wolle nur noch 530 Gigawattstunden liefern.

Am Donnerstagvormittag, nachdem klar ist, dass aus Russland wieder Gas nach Deutschland fließt, twittert Müller erneut. Die bisherigen Gasflüsse würden auf rund 700 Gigawattstunden an diesem Tag hinweisen - etwa das gedrosselte Niveau von vor der Wartung.

Was Steinmeier und Merkel in diesen Tagen denken?

„Die politische Unsicherheit und die 60 prozentige Kürzung von Mitte Juni bleiben leider bestehen“, twittert Müller. Es ist wohl als Transparenz-Service gedacht, doch Müllers aufgeregte Tweets spiegeln die Stimmung in der Bundesregierung - und die eigene Machtlosigkeit, was die Gaslieferungen aus Russland anbelangt.

Die früheren Architekten der Russland-Politik, von Angela Merkel bis Frank-Walter Steinmeier müssen in diesen Tagen erfahren, dass der stetige Ausbau der Gasabhängigkeit von Moskau im Rückblick als historischer Fehler eingestuft werden dürften. Bis zuletzt war man sich im Wirtschaftsministerium unsicher, ob der russische Präsident Wladimir Putin den Gashahn wieder aufdrehen werde.

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Baerbock fürchtet ohne Gas Aufstände

In den zehn Tagen ohne Gas aus der Nord Stream 1 war aus Sorge zunehmend Panik geworden, wohl ganz im Sinne Putins. Eine Rationierungsdebatte hatte einen düsteren Ausblick auf den Winter gegeben.

Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) warnte auf einer Veranstaltung am Mittwochabend sogar vor möglichen „Volksaufständen“, die bei einem dauerhaften Gas-Stopp drohen könnten. Aber auch die Preisaufschläge, es könnte mittelfristig eine Verdreifachung geben, und auch erhebliche höhere Stromkosten, verstärken gerade den Alarmismus in der Bundesregierung.

Das Moskau-freundliche Ungarn soll mehr Gas bekommen

Der Druck, den Putin zuletzt auch mit seinem gezielten Verwirrspiel um eine angeblich defekte Gasturbine aufgebaut hatte, scheint bei den Beteiligten in Berlin Wirkung zu zeigen.

Und wie er auch Europa zunehmend mit seinem Spiel zu spalten versucht, zeigt die Tatsache, dass Ungarns Außenminister Peter Szijjarto Donnerstag nach Moskau gereist ist, um die Lieferung von 700 Millionen zusätzliche Kubikmeter Gas von Russland zu besiegeln, während härter gegenüber Putin auftretende Länder wie Deutschland weiter zittern müssen.

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Klaus Müller, Präsident der Bundesnetzagentur besucht den größten deutschen Gasspeicher in Rehden (Niedersachsen).
Klaus Müller, Präsident der Bundesnetzagentur besucht den größten deutschen Gasspeicher in Rehden (Niedersachsen).

© Mohssen Assanimoghaddam/dpa

Speicher schneller füllen, weniger Heizen

Auf einer Pressekonferenz bemühen sich Habeck und Müller wieder in die Offensive zu kommen. Russland sei ein „unsicherer Kantonist“ bei der Energieversorgung, kritisiert der mit Corona-infizierte Minister aus dem Home Office. Russland nutze sein Gas, um Deutschland damit zu erpressen.

Aus dem Wohnzimmer schwört er die Bevölkerung auf eine gemeinsame Kraftanstrengung ein: „Wir brauchen einen langen Atem, der Winter kommt erst noch“, sagt Habeck, der erwartet, dass auch der Winter im nächsten Jahr eine Herausforderung für Deutschland und die EU werde.

Mit einem weiteren Energiesicherungsgesetz will die Bundesregierung auf die weiter bestehende Gefahr eines Gas-Stopps reagieren, kündigt Habeck an und stellt eine ganze Liste von Ideen vor, mit denen Gas eingespart werden soll. So sollen die Gasspeicher gesetzlich schneller gefüllt werden und schon zum 1. September zu 75 Prozent, am 1. Oktober zu 85 Prozent gefüllt werden.

Vor allem die großen Speicher seien noch zu leer, beklagt Habeck und verweist auf Firmen wie Uniper, die wegen Zahlungsschwierigkeiten zuletzt sogar Gas ausgespeichert haben. Zudem soll mit einer Verordnung mehr Kohle und Öl für den Transport auf der Schiene eingesetzt werden. Mehr Biogas soll auf den Markt kommen und die Braunkohleverstromung soll zum 1. Oktober wieder hochgefahren werden.

Karte mit den wichtigsten Gaspipelines in und nach Europa.
Karte mit den wichtigsten Gaspipelines in und nach Europa.

© AFP

"Die Mutter der Porzellankiste ist die Vorsicht"

Doch Habeck will auch in der Industrie und in privaten Haushalten mehr Gas sparen. So sollen große Unternehmen verpflichtet werden, energieschonende Maßnahmen jetzt umzusetzen, die sich innerhalb von zwei Jahren durch den geringeren Verbrauch wieder finanziell rechnen.

In öffentlichen Gebäuden sollen Durchgangsräume im Winter nicht mehr beheizt werden, zwischen Weihnachten und Neujahr kann sich Habeck eine solche Regelung auch für Unternehmen vorstellen.

Wohnungsmieter sollen zudem von Vorgaben ihrer Vermieter befreit werden, auch bei mehrtägigen Abwesenheiten eine bestimmte Zimmertemperatur aufrechtzuerhalten. "Diese Mindesttemperatur-Heizverpflichtung wollen wir aussetzen", so Habeck. Es gehe ausdrücklich nicht um das Absenken der von Vermietern zu gewährleistenden Mindesttemperaturen.

Auch private Pools dürften nicht mehr mit Gas beheizt werden, ein „Heizungscheck“ werde verpflichtend. „Die Mutter der Porzellankiste ist die Vorsicht“, begründet Habeck die Maßnahmen. Wie viel Gas damit eingespart werden könnte, weiß Habeck auf Nachfrage jedoch nicht.

Trotz Mangel wird Gas auf Rekordniveau verstromt - auch weil französische AKW stillstehen

Das Paradoxe: Trotz der Gasengpässe und unzureichend gefüllter Speicher, wird derzeit so viel Gas zur Stromproduktion eingesetzt, wie selten zuvor. Allein am Donnerstagmorgen gegen 09.15 lag die Stromproduktion mit Hilfe von Erdgas bei 10 089 Megawatt, zum Vergleich: Die Kernenergie-Produktion lag zu dem Zeitpunkt bei 3968 Megawatt, die aus Steinkohle bei 5775 Megawatt, nur Braunkohle (12 899 MW) und Solar (13 642 MW) produzierten mehr Strom als Erdgas.

Das hängt zum Teil auch mit dem europäischen Strommarkt zusammen. Da in Frankreich zahlreiche Atomkraftwerke wegen Wartungen oder hitzebedingtem Wassermangel stillstehen, steigt der Stromexport. Da aber die Gasverstromung besonders teuer ist, treibt das derzeit auch die Strompreise weiter stark an.

Stadtwerke fürchten das Schlimmste

Bis zum russischen Überfall auf die Ukraine galten Gaskraftwerke als der ideale Partner für die erneuerbaren Energien: Gaskraftwerke lassen sich anders als Atom- und Kohlekraftwerke schnell rauf und runter fahren, um die schwankende Solar- und Windstromproduktion auszugleichen. Und mit der Aussicht auf Nord Stream 2 und billiges russisches Gas setzten gerade viele Stadtwerke auf Gaskraftwerke.

Entsprechend groß ist hier nun die Not. Der Hauptgeschäftsführer des Verbands kommunaler Unternehmen (VKU), Ingbert Liebing, betont: „Die Wiederaufnahme des Betriebs von Nord Stream 1 ist auf den ersten Blick ein gutes Signal.

Auf den zweiten Blick ist das jedoch kein Grund, sich entspannt zurückzulehnen, denn die reduzierten Lieferungen zeigen: Putin setzt Gas als Waffe in seinem Wirtschaftskrieg ein.“ Politik, Energiewirtschaft, Wirtschaft und die Bürger dürften jetzt nicht nachlassen, Gas einzusparen.

Rohrsysteme und Absperrvorrichtungen in der Gasempfangsstation der Ostseepipeline Nord Stream 1 in Lubmin.
Rohrsysteme und Absperrvorrichtungen in der Gasempfangsstation der Ostseepipeline Nord Stream 1 in Lubmin.

© Stefan Sauer/dpa

Ruf nach Schutzschirm - um Bürger vor Kostenexplosion zu schützen

„Unser Land und seine Gesellschaft werden ökonomisch von Russland attackiert - alle Maßnahmen, die den Gasverbrauch reduzieren, dienen insoweit der Vorsorge und letztlich auch unserer Verteidigung.“

Bis zum Herbst müssten die Speicher zu mindestens 90 Prozent gefüllt sein; der Vertreter von rund 800 Stadtwerken fordert wegen der enorm gestiegenen Preise für die Stadtwerke und kommunalen Energieversorger einen staatlichen Schutzschirm, „um eine bezahlbare Energieversorgung aufrecht erhalten zu können“.

Denn auch im Fall eines kompletten Lieferstopps sollten keine Preise und Kosten an Kunden weitergegeben werden müssen, „die zu unkontrollierten Marktreaktionen und weiteren sozialen Belastungen führen.“

Union fordert mehr Werben für Sanktionen - aber viele Bürger zweifeln am Nutzen

Die Union fordert die Bundesregierung angesichts eines befürchteten Stimmungsumschwungs auf, stärker um Unterstützung für die Sanktionen gegen Russland zu werben. Putin setze auf eine Gewöhnung und Abstumpfung angesichts des Krieges im Westen und wolle insbesondere Deutschland „in der Energiefrage zermürben“, sagt Fraktionsvize Johann Wadephul (CDU). „Diese Rechnung darf nicht aufgehen.“

Die Bundesregierung müsse Kritik an der Sanktionspolitik des Westens deutlicher entgegentreten. Es gelte die Regel: „Greife nie in ein Wespennest, und wenn, dann fest.“ Wadephul bestreitet, dass es auch in der CDU Absetzbewegungen von der Russlandpolitik der Bundesregierung und des Westens gebe, in seiner Partei herrsche in dieser Hinsicht „Geschlossenheit“.

Der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) hatte jedoch zuletzt die Folgen der Sanktionen kritisiert und eine Verhandlungslösung auf Basis des Status Quo zur Beendigung des Krieges mit deutscher Hilfe verlangt. Nach einer Forsa-Umfrage sehen inzwischen 53 Prozent einen größeren Schaden für Deutschland als für Russland - dabei war es ein Grundsatz von Kanzler Scholz, dass die Sanktionen niemals mehr Deutschland schaden sollen.

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