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Flaggenwechsel. In Sewastopol wollen die Leute Russlands Nationalmannschaft siegen sehen. Bei der EM 2012 war das noch anders.

© Sven Goldmann

Die Fußball-WM und die Krim: Halb Insel, ganz russisch

Die Stadtverwaltung bezahlt Fahnenschwenker – öffentliches Fußballgucken auf der Krim ist eine staatstragende Angelegenheit. Und ein Ort für „Rossija!“-Patriotismus in einem besetzten Land.

Es ist kurz nach halb acht am Abend, als die Heldenstadt aufsteht. Kräftige Männer stoßen ihre tätowierten Arme in die Luft, Mädchen schlagen die Hände vorm Gesicht zusammen und Großväter schreien auf. Vorn an der Leinwand überschlägt sich die Stimme des Kommentators, und für einen kurzen Augenblick hoffen sie alle zusammen, dass alles doch noch gut wird. Hier in Sewastopol, wo noch immer alles gut ausgegangen ist. Früher im Krimkrieg gegen Franzosen, Engländer und Osmanen, später im Zweiten Weltkrieg gegen die Deutschen und zuletzt gegen die slawischen Brüder aus der Ukraine.

Vielleicht auch an diesem Abend gegen Uruguay, obwohl das Schicksal weit entfernt entschieden wird. 2000 Kilometer weiter nordöstlich in Samara, wo Russlands Nationalmannschaft gerade gegen die Südamerikaner spielt, am letzten Spieltag der Vorrunde der Fußball-Weltmeisterschaft.

Weiß-blau-rote Fahnen flattern im Wind und in den Händen der Leute. Frauen und Männer und Mädchen und Jungen sind an diesem Abend am Hafen von Sewastopol zusammengekommen, um die Sbornaja siegen zu sehen, die russische Fußball-Nationalmannschaft, die sich bisher so gut geschlagen hat bei der Weltmeisterschaft daheim.

Völkerrechtlich Ukraine, faktisch Russland

Am heutigen Sonntag geht es in Moskau gegen Spanien, und wieder wird das Land zusammenrücken. In Moskau, wo aus dem Roten Platz seit Wochen ein Bunter Platz geworden ist, mit blau-weiß-rot gewandeten Russen, die sich mit den Gästen aus der ganzen Welt verbrüdern. In St. Petersburg, diesem Freiluftmuseum an der Ostsee, dessen Prachtboulevard, der Newski-Prospekt, zur inoffiziellen Fanmeile geworden ist. Der Besuch aus der ganzen Welt verleiht dem Alltag eine ungewohnte Leichtigkeit, und Russland hat sich ein bisschen in sich selbst verliebt.

Auch dort, wo es eigentlich gar nicht russisch ist, jedenfalls nicht nach internationalem Recht. Hier im Zentrum von Sewastopol, der größten Stadt auf der Krim. Männer und Frauen und Kinder lehnen sich an Strohballen und sitzen auf Campingstühlen. „Rossija!“, rufen die kleinen Mädchen vorn an der Bühne und schwenken Fähnchen, die überall verteilt werden.

„Die Leute hier sind patriotischer geworden in den vergangenen Jahren“, sagt Irina. Sie verrät ihren Nachnamen nicht, „der muss Sie nicht interessieren und erst recht nicht meine Landsleute, die später lesen, was Sie so alles schreiben.“ Mehr müsse sie dazu wohl nicht sagen. „Schreiben Sie einfach: Ich bin eine romantische Pensionärin!“

Irina also hat einen russischen und einen ukrainischen Pass. Die Krim gehört völkerrechtlich zur Ukraine, faktisch aber seit vier Jahren zu Russland. Fußball-WM-Gucken auf der Krim, das ist ein Vergnügen in einem besetzten Land.

„Mein Mann war neulich für euch Deutsche“

Irina, 60 Jahre alt, wache Augen, rote Haare, ist vor zwei Jahren als Lehrerin pensioniert worden, sagt sie, und sie interessiere sich eigentlich nicht für Fußball. Sie ist dennoch hergekommen. „Die ganze Welt ist ja gerade in Russland“, sagt sie, „da muss man ja mal schauen. Mein Mann war neulich für euch Deutsche, als ihr gerade gegen die Schweiz gespielt habt.“ Ähm …, Schweden. „Ist ja auch egal. Aber sagen Sie mal: Gefällt es Ihnen hier? Was halten Sie von unserem Problem hier?“

Über Jahrhunderte hat die Krim niemandem gehört, bis sie im 18. Jahrhundert von Katharina der Großen für Russland erobert wurde und nun im dritten Jahrtausend die Welt spaltet.

Können Sie sich noch an 2012 erinnern, Irina? Als die Europameisterschaft in der Ukraine ausgespielt wurde? „Ach, das war in einem anderen Leben“, sagt sie. „Aber wenn Sie mich jetzt fragen, ob sich seitdem Dramatisches verändert hat, dann muss ich Ihnen sagen: Nein, es hat sich eigentlich gar nichts verändert.“ Und dass die Ukrainer auf einmal nichts mehr zu bestellen haben? „Hier hat auch früher niemand Ukrainisch gesprochen. Gehen Sie doch mal rum und fragen Sie die Leute!“

Es ist in der Tat nicht leicht, auf der Krim Sympathisanten für die ukrainische Sache zu finden. Ob das hier Russland sei? Irritierte Blicke, wen immer man anspricht, auf der Hafenpromenade, am Strand, im Restaurant. Natürlich Russland, was denn sonst?

35 Jahre, drei Staaten

Das war 2012 bei der Europameisterschaft noch nicht so eindeutig, als das Public Viewing im Stadion des FC Sewastopol stattfand, ein Stück weiter außerhalb hinter sanften Hügeln. Damals flatterte schüchtern das eine oder andere ukrainische Fähnchen im Wind, der Klub-Manager Maksim war ein gebürtiger Ukrainer aus Lemberg, der nichts gegen die Russen hatte und doch den Ukrainern die Daumen drückte. Sechs Jahre später ist Maksim nicht mehr da, den FC Sewastopol gibt es nicht mehr und ukrainische Fähnchen auch nicht. Irina bekommt ihre Rente jetzt aus Moskau. Die komplette Verwaltung ist ausgetauscht worden, „da sind viele Beamte aus Russland gekommen“. Wo die anderen hin sind? „Gute Frage, da habe ich noch gar nicht drüber nachgedacht, die sind eben weg.“

Irina sagt, sie lebt seit 35 Jahren auf der Krim, in dieser Zeit war sie Bürgerin dreier verschiedener Staaten. Sie kam 1983 mit einem Pass der Sowjetunion, aus Kaluga, einer Stadt südwestlich von Moskau. Zu sowjetischen Zeiten war Sewastopol für Leute von außerhalb kaum betretbar – für welche aus dem Westen sowieso, aber auch für die weniger privilegierten Bürger der UdSSR. Kriegsschiffe lagen hier vor Anker. „Wenn Sie uns besuchen wollten, mussten Sie schon was auf sich nehmen, Passierscheine beantragen und so“, sagt Irina.

Es ging nicht um Sport

Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde sie Ukrainerin, „obwohl ich kein einziges Wort Ukrainisch gesprochen habe“. War das unangenehm? „Irgendwie schon, innerlich habe ich mich dagegen gewehrt.“ Und jetzt? Als Russin? „Geht schon.“ Und: Nein, sie halte die Art und Weise, wie Russland sich im Frühjahr 2014 die Krim einverleibt habe, nicht für richtig.

Bedrückende Tage seien das gewesen. Da war eine ihrer Schülerinnen, „ihr Vater diente bei der ukrainischen Armee, und sie hatte große Angst, dass es Krieg geben und er sterben würde.“ Ja, die Krim sei schon immer eher russisch als ukrainisch gewesen, sagt Irina. „Aber wir hätten das anders lösen müssen.“ Wie? Irina legt sich zwei Finger über die Lippen, was wohl bedeuten soll, dass sie dazu noch einiges sagen könne, aber … „nein, lieber nicht, haben Sie bitte Verständnis.“

Russland hat für die Fußball-Weltmeisterschaft ein Stadion im früher ostpreußischen Königsberg – heute Kaliningrad – errichtet und eins in Wolgograd, das einmal Stalingrad hieß. Zwei Städte, in denen Fußball eine eher untergeordnete Rolle spielt. Es ging dabei auch nicht um sportliche Kriterien, sondern darum, das Land in seiner historischen Dimension darzustellen. Aber nicht mal Wladimir Putin hätte es gewagt, ein neues Stadion in Sewastopol zu bauen und die Welt dorthin einzuladen.

Alle paar Meter ein Denkmal

Dabei wirkt Sewastopol im Sommer 2018 wie ein kleines Paradies. Eine Stadt mit schneeweißen Villen, die mit ihren Türmchen und Balkonen von Stalins Zuckerbäckern aufwendig in die Hügel modelliert worden sind. Kinder planschen an den Stränden im Stadtzentrum und quieken vor Begeisterung, wenn mal wieder eine Welle auf die Hafenmauer rollt und jeden nass spritzt, der nicht rechtzeitig das Weite sucht. Junge Frauen stöckeln auf viel zu hohen Absätzen vorbei, begleitet von Männern mit breiten Schultern und raspelkurzen Haaren, die sonst von Matrosenmützen bedeckt werden. „Geben Sie es schon zu!“, sagt Irina. „Die Leute hier sehen glücklich aus, oder?“

Zur Kulisse der Stadt gehören außerdem: alle paar Meter ein Denkmal, oft mit Sowjetstern versehen. Eine Promenade, an der man sich kostenlos vor einem Blumen-Panorama und dem Schriftzug „Krim nasch“ fotografieren lassen kann, das heißt so viel wie: Die Krim ist unser. So ähnlich haben Deutsche das bis in die Siebziger von Schlesien gesagt oder von Ostpreußen.

In der russischen Mythologie hat Sewastopol einen festen Platz als Heldenstadt. Im Krimkrieg widerstand die Stadt zwischen November 1854 und September 1855 elf Monate lang der Belagerung von Franzosen, Engländern und Osmanen und war am Ende doch ein Trümmerfeld. Im Zweiten Weltkrieg eroberte Hitlers Wehrmacht Sewastopol nach einer 250 Tage währenden Belagerung, man plante schon die Umbenennung in Theoderichshafen. Dazu kam es nicht, im Mai 1944 war die Rote Armee wieder da.

Ein Geschenk der Sowjetunion

Die Russen sprechen bis heute nicht von Belagerungen. Sondern von der ersten und zweiten Verteidigung Sewastopols. Die dritte war der nach dem Zerfall der Sowjetunion einsetzende politische Kleinkrieg mit der Ukraine, den Russland vor vier Jahren mit einer Annexion der Krim entschieden hat. „Sewastopol ist immer noch keine normale Stadt“, sagt Irina. „Hier werden Sie jeden Tag mit der Geschichte konfrontiert. Mit einer sehr traurigen Geschichte.“

Nach offizieller Lesart war die Krim ein Geschenk der Sowjetunion an die Ukraine für den heroischen Einsatz im Großen Vaterländischen Krieg. Nikita Chruschtschow, geboren in Russland, aufgewachsen in der Ukraine, ging es wohl darum, die Versorgung der im Krieg verwüsteten Provinz mit Lebensmitteln und Energie möglichst effizient zu organisieren. Dafür musste die Krim aus Kiew regiert werden. Später baute Moskau den Hafen von Sewastopol – ein Teil der Seestreitkräfte, die Schwarzmeerflotte, ist hier seit den Zeiten des Zarenreiches stationiert – zum Stützpunkt für Atom-U-Boote aus.

„War schon komisch“, sagt Irina, aber eigentlich habe das niemanden interessiert. „Ja, wir sind von Kiew aus verwaltet worden, aber wer hat das schon bemerkt? Das war die Sowjetunion, ein riesiges Land, da haben solche Feinheiten keine Rolle gespielt.“

Die Fans auf der Krim leiden schweigend

Dann zerfiel der Vielvölkerstaat. Die nun unabhängige Ukraine wollte das Geschenk am Schwarzen Meer nicht mehr hergeben, die Russische Föderation als Rechtsnachfolger der UdSSR aber ebenso wenig auf die Krim und schon gar nicht auf den Flottenstützpunkt Sewastopol verzichten. 1993 erklärte das russische Parlament Sewastopol zu russischem Territorium. Dann kam der nie erklärte Krieg mit der Ukraine und mit ihm eine neue Zeit.

Mit Moskauer Geld wurde der Flughafen ausgebaut und eine Autobahn quer über die Halbinsel planiert, eine gerade erst eröffnete Brücke garantiert die Verbindung zum russischen Festland.

Im Juni 2018 strahlt die Sonne auf das Schwarze Meer, was nicht ganz zur Stimmung passt, jedenfalls nicht beim Public Viewing am Hafen. Uruguay hat alles im Griff, das Publikum schweigt nun, nur vorn, neben der Bühne, schwenken fünf Mädchen tapfer ihre weiß-blau-roten Fahnen. Sie schwenken im Auftrag der Stadtverwaltung, ein Ferienjob für einen Abend.

Das Public Viewing in Sewastopol ist eine ernste, eine staatstragende Angelegenheit. „Rossija!“, brüllt der Fernsehkommentator, aber es hilft nichts. Uruguay bestimmt nach zwei schnellen Toren das Spiel und schießt spät auch noch ein drittes. An diesem Abend wird nichts mehr gut in Sewastopol, wo sonst doch immer alles gut ausgegangen ist. Deutsche Fans würden pfeifen, argentinische weinen. Die russischen Fans auf der Krim leiden schweigend.

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