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Gashochdruckleitungen liegen gestapelt in Oberndorf, Bayern.

© imago/blickwinkel

Die Egoismen der Länder überwinden: Europa braucht eine Energieunion

Die zentralen energiepolitischen Entscheidungen sollten künftig auf europäischer Ebene getroffen werden – und nicht mehr in den Mitgliedsstaaten. Ein Gastbeitrag.

Ein Gastbeitrag von Günther H. Oettinger

- Günther H. Oettinger ist Präsident von United Europa e.V. Er war Ministerpräsident von Baden-Württemberg und EU-Kommissar für Energie, digitale Wirtschaft und Gesellschaft, Haushalt und Personal.

Russlands völkerrechtswidriger Krieg gegen die Ukraine dauert nun schon fast ein halbes Jahr. Wladimir Putin und sein Regime überziehen das Nachbarland mit Gewalt, Mord, Zerstörung. Der Krieg ist ein besonders schmutziger Teil des säkularen Kampfes der Systeme: Autokratie versus Demokratie.

Das westliche Lager hat Wirtschaftssanktionen im bisher nicht gekannten Ausmaß gegen Russland verhängt. Putin antwortet auf dem Energiesektor. Aus dem heißen Krieg auf den ukrainischen Schlachtfeldern ist ein weltweiter Wirtschaftskrieg geworden. Moskaus „Waffen“ sind Kohle, Öl und Gas. Insbesondere die Abhängigkeit von russischem Gas bereitet zahlreichen Ländern Europas, gerade auch Deutschland, große Probleme.

Dieser Text erscheint im Rahmen der Reihe Global Challenges. Global Challenges ist eine Marke der DvH Medien. Das neue Institut möchte die Diskussion geopolitischer Themen durch Veröffentlichungen anerkannter Experten vorantreiben. Regelmäßige Autoren und Autorinnen neben Werner Hoyer sind Prof. Dr. Ann-Kristin Achleitner, Sigmar Gabriel, Werner Hoyer, Jürgen Trittin, Prof. Jörg Rocholl PhD, Prof. Dr. Bert Rürup und Prof. Dr. Renate Schubert.

Im Frühjahr gab es sogar Forderungen, umgehend auf russische Gaslieferungen zu verzichten. Mit Blick auf den Winter wird aber klar, wie schwierig die Lage ist. Putin setzt Gas als Waffe ein und drosselt die Lieferung. Aus Angst im Winter frieren zu müssen, starren die Deutschen so gebannt auf den Füllstand der Gasspeicher wie sonst nur auf die Ziehung der Lottozahlen.

Not lehrt Denken

Gas wird knapp, vor allem in Europa. Weltweit erreichen die Preise nie gekannte Höhen. Doch Not lehrt Denken. So gesehen ist jetzt der beste Zeitpunkt, um endlich die Europäisierung der Energie- und auch der Klimaschutzpolitik entschiedener voranzutreiben. Zwar wurden bislang schon Fortschritte erzielt, immer wieder aber waren nationale Interessen wichtiger. Das gilt auch für die deutsche Energiewende.

Ziel muss eine Energieunion sein, in der die zentralen energiepolitischen Entscheidungen auf europäischer Ebene getroffen werden – und nicht mehr in den Mitgliedsstaaten. Jeder nationale Energieminister der EU muss einen festen zweiten Arbeitsplatz im Brüsseler Energie-Rat haben. Damit diese Vision nicht zur Illusion wird, sollte es nur eine Ausnahme geben: Entscheidungen zur Kernkraft treffen weiterhin die Mitgliedsstaaten, alles andere wäre unrealistisch.

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Die Energieunion wäre nach innen für kohärente und solidarische Lösungen verantwortlich, nach außen sollte sie ein geschlossenes Auftreten der Mitgliedstaaten garantieren.

Die Reise von Robert Habeck nach Katar sollte signalisieren, der Wirtschaftsminister sei an pragmatischen energiepolitischen Lösungen interessiert. Warum aber sollten die Kataris ausgerechnet der Bundesrepublik kurzfristig aus der Gasklemme helfen, jenem Land, das das Emirat besonders laut wegen Menschenrechtsverstößen kritisiert? Außerdem sind die Kataris offenbar an langfristigen Lieferverträgen interessiert, die Deutschen betrachten Gas hingegen nur als vorübergehende Brückenenergie.

Das Beispiel Katar zeigt, wie es nicht geht

Am Beispiel Katar wird aber auch deutlich: Der internationale Energiemarkt hat sich vom Käufermarkt mit Tiefstpreisen während der Corona-Pandemie in einen Verkäufermarkt mit Höchstpreisen verwandelt. Die Produzenten können sich die Kunden aussuchen. Das sieht dann so aus: Flüssiggasschiffe mit Kurs auf Pakistan drehen kurz vor dem Ziel ab, woanders in der Welt wurde mehr geboten. Deshalb muss Pakistan, das nicht zuletzt wegen der gestiegenen Energiepreise unter einer Inflation von fast 20 Prozent leidet, immer wieder den Strom abstellen.

Die EU, mit der geballten Wirtschaftskraft ihrer 27 Mitgliedsstaaten im Rücken, kann beim Abschluss von Verträgen ganz anders auftreten als einzelne Länder. Das ist weder Planwirtschaft noch ein Eingriff in den freien Markt. Die EU kauft ja nicht selbst, sie verhandelt nur die Rahmenbedingungen für die Wirtschaft. Diversifikation ist dabei das Stichwort der Stunde, um die gefährliche Abhängigkeit von einem oder sehr wenigen Lieferanten zu beenden. Das gilt insbesondere für Gas. Viele Routen und viele Quellen verringern die Erpressbarkeit.

Aserbaidschan hat der EU als Ganzes bessere Konditionen gegeben

Ein gutes Beispiel hierfür ist Gas aus Aserbaidschan. Im vergangenen Monat unterzeichneten EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen und Aserbaidschans Präsident Ilham Aliyev in Baku einen Rahmenvertrag, wonach EU-Mitglieder aus der früheren Sowjetrepublik ab 2027 jährlich 20 Milliarden Kubikmeter Gas importieren können. Bislang sind es lediglich 8,1 Milliarden Kubikmeter pro Jahr.

Der Rahmenvertrag zeigt, wie im Energiebereich die Welt neu justiert wird. Die EU muss jetzt und künftig auf viel mehr Energielieferanten als in der Vergangenheit setzten, um nie wieder, wie im Fall Russlands, allein von einem Land abhängig zu sein. Darüber hinaus muss eine echte Energieunion aber auch im Inneren zu einem voll funktionierenden Markt ausgebaut werden. Dazu gehören leistungsfähige Transportwege zwischen den Mitgliedstaaten. In Spanien und anderen südeuropäischen Ländern gibt es nicht ausgelastete Flüssiggas-Terminals. Eine Gaspipeline durch die Pyrenäen und Frankreich nach Deutschland wäre ein wichtiger Beitrag für eine kontinentale Infrastruktur.

Wir brauchen flexible, schnelle Lösungen

Schließlich muss eine europäische Energieunion im Bedarfsfall Solidarität beweisen – womöglich wird es ja schon in diesem Herbst und Winter richtig ernst. Deutschland könnte zum Beispiel auf Gaslieferungen aus Frankreich angewiesen sein, Frankreich wiederum auf Stromlieferungen aus Deutschland. Europas Strombedarf für den Winter ist nicht absehbar. Vielleicht sind auch Stromlieferungen aus Polen und der Ukraine wichtig für Deutschland und Frankreich. Es gilt, jetzt flexible und schnelle Lösungen vorzubereiten.

Nicht auszuschließen, dass wir im Winter 2023/24 erneut vor einer vergleichbaren Situation stehen. Deshalb reicht es nicht, die Laufzeit der verbliebenen drei deutschen Kernkraftwerke über den Jahreswechsel um nur drei Monate zu strecken. Wir sollten sie mindestens weitere zwei Jahre am Netz lassen, um bei der Stromversorgung eine Grundsicherung vorhalten zu können.

Ein paar Brennstäbe mehr helfen - und schaden wenig

In der Kontroverse um die Laufzeitverlängerung nützt es nichts, immer wieder die alten Bedenken vorzutragen. Man kann das Atom-Ausstiegsgesetz ändern, und Brennstäbe gibt es nicht nur im Reich Putins, sondern auch beim US- Konzern Westinghouse. Kämen nach 50 Jahren Atomwirtschaft nun noch einmal 220 Brennstäbe hinzu, würde das Endlager-Problem nicht nennenswert verschärft. Man muss jetzt einfach nur ideologiefrei anfangen. Selbst Rebecca Harms, lange Jahre Fraktionsvorsitzende der Grünen im Europa-Parlament und Anführerin der Proteste gegen das Endlager Gorleben, plädiert mit Blick auf eine Laufzeitverlängerung der drei AKWs inzwischen für eine „pragmatische Herangehensweise“.

Wir bauen jetzt LNG-Terminals für Fracking-Gas aus den USA und bringen es mit enormen Emissionen über den Atlantik. Eine Expertenkommission hält Fracking mit modernsten Techniken für verantwortbar, für die Politik ist es aber noch immer ein Tabu. Ein klarer Fall von Doppelmoral. Natürlich kann Deutschland wie der Rest der EU 15 Prozent Gas sparen. Aber wie soll man Solidarität einfordern, wenn man selbst nicht zu Kompromissen bereit ist?

Günther H. Oettinger

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