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Tagesspiegel-Kolumnistin Pascale Hugues liest und diskutiert im Tagesspiegel-Salon.

© Thilo Rückeis

Die Deutschen und die Sprachkunst: Sagen Sie jetzt lieber nichts

"Meine sehr verehrten Damen und Herren" ist eine altbackene Floskel, die nach Filialleiter einer Provinzsparkasse riecht. Warum ist sie so beliebt?

Es gibt nichts Schlimmeres als schlechte Redner. Nicht jedem ist es vergönnt, eine ganze Tischgesellschaft oder einen Plenarsaal vor Eloquenz zum Zittern zu bringen. In einem Land, das eine Schwäche für endlose (und meist humorlose) Debatten hat, gibt es etliche Anlässe, diesen Mangel festzustellen. Eine einfache Einladungskarte reicht, um meine Augenlider schwer werden zu lassen. Ansprache, Vortrag, Grußwort, Festrede, Statement, Keynote, Impuls … you name it. Selbst, wenn ein englischer Begriff verwendet wird, mindert das nicht meine Befürchtungen.

Sie aß, unbeirrbar, während ihr Professor vorne schwadronierte

Glücklicherweise gibt es tausend und eine Möglichkeit, sich bei einer langweiligen Rede abzulenken: Den Kopf auf die Schulter fallen lassen und dösen, in der Nase bohren, eine mentale To- Do-Liste anlegen, auf einem in der Jackenfalte versteckten iPhone herumwischen. Noch raffinierter: Dem Redner stetig in die Augen blicken und regelmäßig zustimmend nicken, während man in Gedanken umher reist, weit entfernt von diesem überheizten Saal und diesem Grußwort, das für knappe fünf Minuten angesetzt war, aber schon 20 dauert. Wann wird diese Marter ein Ende nehmen? Man sitzt auf einem ungemütlichen Stuhl in der Reihenmitte, ohne eine Tarnstrategie, die einem helfen könnte, ungesehen aus dem Saal zu entkommen. Ich habe vor kurzem in einem Universitätshörsaal sogar eine Studentin gesehen, die ein Picknick machte! Sie hatte ihr Sandwich herausgeholt und eine Thermoskanne mit Kaffee. Sie aß, unbeirrbar, während ihr Professor vorne schwadronierte. Eine alte Lebensweisheit besagt: Wer zu viel redet, vergisst zu essen. Offenbar kann man sie erweitern: Wer zu viel redet, erinnert andere ans Essen. Stellen Sie sich vor, die Abgeordneten im Deutschen Bundestag würden dieser Maxime folgen und auf ihren Pulten Eierstullen und Döner verzehren. Wobei: An manchen Tagen wären 631 in Stille vor sich hinkauende Parlamentarier ein Segen für alle Beteiligten. Lassen Sie uns aber einen Moment die Perspektive wechseln; begeben wir uns in die Haut des Redners. Er merkt ganz genau, dass das Publikum sich langsam ausklinkt, dass er seine Zuhörer langweilt, dass keiner wirklich hinhört. Also ruft er, in einem Akt der Verzweiflung, meine Sehr verehrten Damen und Herren! Eine Anherrschung wie aus der Trillerpfeife. Ein brutaler Ordnungsruf. Der ganze Saal schreckt kollektiv für einen Moment hoch. Meine sehr verehrten Damen und Herren, in regelmäßigen Intervallen wiederholt, ist eine ungeschickte, aber effektive – ja sogar ein klein wenig brutale – Art, die Zuhörer wieder an Bord zu holen, die Schlafenden zu wecken; eine Methode diejenigen zu unterbrechen, die gerade träumen, essen oder ihre Virtuosität des versteckten SMS-Schreibens beweisen. Und sofort schauen alle mit wachen Augen geradeaus nach vorn, zum Redner. Alle sind wieder dabei. Stramm und aufmerksam. Bis sich wenige Minuten später die Pupillen wieder zusammenziehen, die Schultern sich senken, die Gedanken in andere Gefilde abschweifen.

Eine Kette leerer Worte

Meine sehr verehrten Damen und Herren ist eine etwas altbackene Floskel. Sie riecht nach Filialleiter einer Provinzsparkasse. Aber immerhin ist sie eleganter als ein verlorenes „ähm“. Meine sehr verehrten Damen und Herren erlaubt dem Redner nicht aufzuatmen (wie denn auch bei so einer gigantischen langen Phrase!), aber sie gönnt ihm einen Moment der Ruhe, um die Gedanken zu sortieren. Meine sehr verehrten Damen und Herren wird nicht mit dem gehörigen Respekt ausgesprochen, sondern heruntergeleiert, mit kaum vernehmbarer Stimme durch schlaffe Lippen herausgetönt. Eine Kette leerer Worte. Noch besser, wenn daran weitere Würdenträger geknüpft werden können: Diplomaten, Bürgermeister, Minister a.D oder andere has-been-Eminenzen – so lässt sich noch mehr Zeit gewinnen. Ein Schleppzug prominenter Gäste kann einem wackligen Redner einen festen Tritt ermöglichen, seinen Mangel an Charme und Witz – diese so feinen Werkzeuge der Redekunst– zu kompensieren.

Aus dem Französischen übersetzt von Fabian Federl.

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