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Gesehen auf einer „Querdenker“-Demonstration in Leipzig am 6. November 2021.

© AFP

Die Deutschen und Corona: Sind wir staatsfromm, obrigkeitshörig, freiheitsverachtend?

Der Freiheitsbegriff wird instrumentalisiert. Dabei gehen Elite und Mob eine unheilvolle Liaison ein. Immer öfter, immer inniger. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Es ist ein großes, vieldeutiges Wort. Freiheit. Es klingt nach Sehnsucht und Verheißung, nach Bedürfnis und Drang. Es umfasst das Aufbrechen-Können, wohin man will, das Sagen-Dürfen, was man will, das Glauben-Dürfen, woran man will. Was es nicht umfasst, ist ein Verhalten, das zum Tod anderer führt.

Eine Freiheit, die über Leichen geht, gibt es nicht. Erwachsene Menschen dürfen rauchen, sich am Bungee-Seil von Brücken stürzen und mit einem Drachenflieger vom Berg gleiten. Damit riskieren sie das eigene Leben. Wer wiederum am Straßenverkehr teilnimmt, geht bewusst das Risiko ein, sich selbst sowie andere zu schädigen. Aber sich in der Corona-Pandemie auf Freiheitsrechte zu berufen, tendiert zur Infamie.

Vom „Buckeln“ und „Denunzieren“ ist die Rede

Die Corona-Maßnahmen hätten „ein Feuerwerk antifreiheitlicher Reflexe entfacht“, heißt es in einem Kommentar der „Welt“. „Einer Mehrheit der Deutschen ist Freiheit vollkommen egal, einige verachten sie ganz offen.“ Deutschland sei eine „Freiheitssteppe“ geworden. Ein anderer Kommentator erinnert in derselben Zeitung an den Roman „Der Untertan“ von Heinrich Mann und schreibt, die Deutschen hätten sich in der Corona-Krise „als besonders obrigkeitshörig und staatsfromm“ erwiesen. Das „Buckeln“ und „Denunzieren“ gehöre offenbar immer noch zum nationalen Inventar.

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Ähnlich klingt es in einem Gastbeitrag der „Neuen Zürcher Zeitung“. Darin mokiert sich die Autorin über einen „150-prozentigen Corona-Gehorsam“ der Deutschen, über eine „totale Unterwerfung“ und „Massengehorsam“. Auch hier wird eine Parallele zur Vergangenheit gezogen. „Wahrscheinlich ist immer noch viel von der Ja-Nein-, Schwarz-Weiß-, Gut-Böse-, Freund-Feind-Mentalität Carl Schmitts übrig.“

Wer solche Stimmen als exzentrische Einzelmeinungen charakterisiert, macht es sich zu leicht. „Freiheit statt Notstand“ skandieren auch die sogenannten Querdenker auf ihren Demonstrationen. Dass sich eine von ihnen als Sophie Scholl inszenierte, war gewiss kein Zufall. In der Instrumentalisierung des Freiheitsbegriffes gehen Elite und Mob eine unheilvolle Liaison ein. Immer enger, immer öfter, immer inniger.

Es wird Schindluder getrieben mit einem großen Wort

Zumal die Fakten eine ganz andere Wirklichkeit zeigen. Zwei Drittel der Deutschen sind geimpft. Das ist im europäischen Maßstab eher wenig und zeugt nicht gerade von einer ausgeprägten Obrigkeitshörigkeit. In der Logik der Freiheitstrommler müssten die Menschen in Spanien, Island, Frankreich, Dänemark, Italien, Norwegen, Großbritannien, den Niederlanden und Schweden – um nur einige Länder zu nennen, die eine höhere Impfquote haben als Deutschland – sehr viel freiheitsfeindlicher sein als die Deutschen. Eine solche Behauptung wäre so anmaßend wie idiotisch.

Israel verabreicht seit dem 30. Juli die dritte Impfung, den „Booster-Shot“. Aktuell sind rund vier Millionen Israelis, bei einer Gesamtbevölkerung von neun Millionen, dreimal geimpft. Das ist weltweiter Rekord. Klaglos wird der „Grüne Pass“ benutzt, durch den vollständig Geimpfte am öffentlichen Leben teilnehmen können. In Sachen Lockdown, Einreiseverbot und Quarantänepflicht war Israel in den vergangenen Monaten sehr viel strenger, als es Deutschland je war. Ist das ein Zeichen dafür, um erneut in der Logik der Freiheitstrommler zu bleiben, dass Israelis die Freiheit verachten und das Land eine „Freiheitssteppe“ ist? Absurd.

Sie sagen „Freiheit“ und meinen das „Recht“, Mitmenschen durch ihr Verhalten in den Tod treiben zu dürfen. Selten in der Geschichte wurde mit diesem großen, schönen, vieldeutigen Wort mehr Schindluder getrieben.

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