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Die Ampelkoalition und der Krieg: Wie Bärbel Bas einmal eine Chance verpasste

„Mehr Fortschritt wagen“, hatte sich die Ampel vorgenommen. Dann kam  Russlands Krieg. Was die Bundestagspräsidentin zu einer aktuellen Analyse der Koalitionspolitik sagt.

Von Hans Monath

Was ist eigentlich geblieben vom ursprünglichen Programm der Ampelkoalition, nachdem mit dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine nicht nur eine Großkrise, sondern multiple Krisen das Regierungshandeln des Bündnisses von SPD, Grüne und FDP vollständig dominieren? Unter anderem um diese Frage ging es am Montag in der Bertelsmann-Stiftung in Berlin bei der Vorstellung des von Knut Bergmann herausgegebenen Buches „,Mehr Fortschritt wagen'? Parteien, Personen, Milieus und Modernisierung. Regieren in Zeiten der Ampelkoalition“.

Das Fragezeichen hinter dem Haupttitel des Sammelwerks ist wichtig. Denn die drei so unterschiedlichen Parteien hatten die Klammer des Fortschrittsgedankens gewählt, um ein gemeinsames Ziel zu finden, das alle vereint, und in Anlehnung an das bekannte Diktum aus der ersten Regierungserklärung Willy Brandts („Mehr Demokratie wagen“) daraus die Leitlinie ihres neuen Bündnisses zu machen.  Damals, Anfang Dezember, natürlich ohne Fragezeichen, damit aber mit einem umso höheren Anspruch ans eigene Handeln.

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„Wenn wir uns über Inhalt, Ziel und Machbarkeit von Fortschritt vergewissern wollen, braucht es den Dialog zwischen den Disziplinen; auch zwischen Theorie und Praxis. Wie in dieser Sammlung“, sagte Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD), als sie den Band vorstellte. Sie sei optimistisch, versicherte die SPD-Politikerin: „Es lohnt sich zu wagen, was unsere Gesellschaft gerade angesichts der vielfachen Krisen braucht: Fortschritt!“ Dazu leiste der Sammelband einen wichtigen Beitrag. Eine These der Sozialdemokratin lautete: „Für mehr Fortschritt müssen wir auch unsere Demokratie stärken.“

Was die Leistung des Buchs angeht, waren sich auch die Publizistin (und frühere Vizechefredakteurin sowie heutige Kolumnistin des Tagesspiegels) Ursula Weidenfeld und der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel einig. Aber meist gingen ihre Urteile in der von Anke Plaettner moderierten Debatte im Hinblick auf die Ampelkoalition auseinander, was für die Zuhörerinnen und Zuhörer kein Nachteil war.

Die Ampel habe sich ihre ursprüngliche „Agenda von der Krise aus der Hand schlagen lassen“, urteilte Weidenfeld. Nun setze sie nicht mehr auf das programmatische Versprechen von Fortschritt, sondern sei bei einem eher Merkelschen Motto angekommen, das laute: „Wählt uns, dann werdet ihr gut regiert.“

Bärbel Bas (SPD), auf dem erhöhten Platz der Bundestagspräsidentin und der Vizepräsidentinnen und -präsidenten im Plenum des Reichstages.
Bärbel Bas (SPD), auf dem erhöhten Platz der Bundestagspräsidentin und der Vizepräsidentinnen und -präsidenten im Plenum des Reichstages.

© imago images/Political-Moments

Auch Merkel, früher Direktor der Demokratieabteilung im Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), spürte den Folgen der Krisenbewältigung nach: Die Ampel sei „noch gar nicht in die Bearbeitung der wichtigen Transformationsaufgaben eingebogen“, meinte er. Trotzdem machte er mit der Übernahme der Regierung „eine Neuerung“ aus: Die drei Parteien hätten gar nicht mehr vor, auf jedem Politikfeld zu einem gemeinsamen Nenner zu kommen, sondern verhandelten in einem „Tauschverhältnis“.

Das wiederum ermögliche es, jeder der drei Partner auf ihrem Spezialfeld zu „eindeutigeren Politiken“ zu  kommen, man müsse nicht mehr „wie die Kesselflicker streiten“. Wenn die Koalition auf unterschiedlichen Politikfeldern Erfolg habe, könne sie „auch etwas Gemeinsames daraus machen“.

„Die Wählerinnen und Wähler wollen eine Regierung haben, die in der Krise gemeinsam handelt“, hielt die ausgebildete Ökonomin Weidenfeld dagegen. Gleichzeitig beschrieb sie den Ausnahmezustand der Krise als „einzige Möglichkeit, wie man in hoch komplexen Gesellschaften vorankommt“.

Was den Kanzler angeht, bekannte Weidenfeld ihr Erschrecken darüber, dass Olaf Scholz ihrer Meinung nach die Aussagen von Wirtschaftsexperten zu den Folgen der Drosselung russischer Energielieferung arrogant abtat. Sie deutete das als Zeichen von Unsicherheit. Dagegen bescheinigte Merkel der gegenwärtigen Regierung ausdrücklich, sie sei  wissenschaftlicher Expertise gegenüber weit aufgeschlossener und aufnahmebereitet als die große Koalition unter Angela Merkel.

Herausgeber des Sammelbandes "Mehr Fortschritt wagen?" ist Knut Bergmann. Er leitet das Hauptstadtbüro und die Kommunikationsabteilung des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW).
Herausgeber des Sammelbandes "Mehr Fortschritt wagen?" ist Knut Bergmann. Er leitet das Hauptstadtbüro und die Kommunikationsabteilung des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW).

© IW

Schwächen der repräsentativen Demokratie im 21. Jahrhundert sahen übrigens beide Diskutanten. Weidenfeld machte in diesem Zusammenhang die Parlamente als „Hauptproblem“ aus. Auch in der durch Russlands Krieg ausgelösten Krise, in der die Exekutive das Heft des Handelns an sich ziehe, gelte: „Letztlich muss das Parlament seinen eigenen Stand behaupten können.“ Wenn es das nicht tue, nähre es „den Kern des Übels“.

Diese These wiederum warf ein bezeichnendes Licht auf den vorangegangenen Vortrag der Bundestagspräsidentin. Die hatte ein wohlklingendes sozialdemokratisches Referat über die komplizierte Lage abgeliefert, in der sogar das ernste Wort „Zumutungen“ wie ein glattgeschliffener Kiesel daherkam.

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Aber sie verzichtete auf etwas sehr Wichtiges für ein Parlament, was ihre Vorgänger Wolfgang Schäuble und Norbert Lammert immer wieder getan hatten: Laut und deutlich die Eigenständigkeit und Entscheidungsmacht des Bundestags gegenüber der Exekutive zu betonen und einzufordern – gerade in der Krise. Gerade beim Thema Fortschritt.

Verteidigt den Umgang der Ampel und des Kanzlers mit der Wissenschaft: Wolfgang Merkel, früher Direktor der Abteilung „Demokratie und Demokratisierung“ am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB).
Verteidigt den Umgang der Ampel und des Kanzlers mit der Wissenschaft: Wolfgang Merkel, früher Direktor der Abteilung „Demokratie und Demokratisierung“ am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB).

© David Ausserhofer/WZB

Das war denn auch das große Thema beim Empfang nach dem Event. Denn auch wenn russische Granaten auf die Verteidiger der Ukraine an der Front im Osten des Landes niederprasseln, müssen in Berlin weiter bewährte Grundsätze hoch gehalten werden, hieß da ein oft gehörtes Argument.

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Selbst wenn die Regierung schnell handeln müsse, über Nacht ein 100-Milliarden-Paket für die Ertüchtigung der Bundeswehr präsentiere: Der Bundestag dürfe nie den Eindruck erwecken, er sei eine Art Abnickverein. Und es wurde an den Satz erinnert: Nicht die Regierung hält sich ein Parlament, sondern das Parlament hält sich eine Regierung. Aber auch in der Funktion der Bundestagspräsidentin kann sich eine Politikerin ja noch weiter entwickeln. Vielleicht nennt man das dann Fortschritt.

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