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Getrieben von der Wirklichkeit: Bundeskanzler Olaf Scholz (vorne), Wirtschaftsminister Robert Habeck (Mitte), Finanzminister Christian Lindner (links).

© Michael Kappeler/dpa

Die Ampel und ihre Haushaltspolitik: Wenn die Wirklichkeit schneller ist

Krieg, Pandemie, Inflation, Wachstumsdelle: Wie die Koalition der Entwicklung hinterherplanen muss - und noch immer ohne regulären Etat wirtschaftet.

Die Wirklichkeit kennt kein Tempolimit. Mal lassen sich die Ereignisse Zeit, bisweilen tut sich auch gar nichts. Dann aber geht alles plötzlich sehr rasch, und manchmal läuft einem die Realität davon. Das erlebt gerade nicht nur die Ampel-Koalition. Aber SPD, Grünen und FDP passiert es zu einem Zeitpunkt, der für eine Regierung unpassender nicht sein kann: Die Ampel hat nämlich keinen beschlossenen Etat für das laufende Jahr, muss aber wegen des Ukraine-Kriegs und seiner Folgen ständig neue Ankündigungen machen, die Geld kosten.

Bis Ende Mai noch befindet sich Deutschland im Zustand der vorläufigen Haushaltsführung. Das bedeutet, dass die Ministerien auf der Basis des Etats von 2021 wirtschaften. In den Jahren nach einer Bundestagswahl ist das nicht unüblich. Artikel 111 im Grundgesetz macht es möglich, dass die Regierung auch ohne einen vom Parlament beschlossenen Etat einigermaßen handlungsfähig ist. Da geht vieles, aber eben nicht alles. Und derzeit macht die Wirklichkeit dank Putin viel Tempo.

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Besonders deutlich sieht man das Hinterheragieren der Bundesregierung beim Ergänzungshaushalt für 2022. Den bereitet Finanzminister Christian Lindner (FDP) seit Mitte März vor, er soll am 27. April im Bundeskabinett beschlossen werden. Es ist ein ungewöhnliches Verfahren, einem gerade erst im Bundestag eingebrachten Etatentwurf einen Nachtrag hinterherzuschieben. Aber die Wirklichkeit drängt die Ampel dazu. Beide Etats zusammen sollen Ende Mai vom Parlament beschlossen werden, und dann ist es auch höchste Zeit.

Ergänzungsetat wächst und wächst...

Der Ergänzungsetat wird derweil immer voluminöser, was zeigt, wie die Ampel von den Ereignissen getrieben wird. Über ihn sollte ursprünglich vor allem das zweite Entlastungspaket (die 300-Euro- Energiepreisentlastung, die Spritpreissenkung, das Neun-Euro-Ticket im öffentlichen Nahverkehr und anderes mehr) finanziert werden.

Von einem Volumen von 17 Milliarden Euro sprach Lindner zunächst. Doch ging man in der Koalition von Beginn an von mindestens 25 Milliarden Euro aus, weil andere Herausforderungen schon erkennbar waren.

Zum einen müssen die Kosten für Unterbringung, Versorgung und Integration von Ukraine-Flüchtlingen finanziert werden, die der Bund nun zu einem gewichtigen Anteil zahlen wird, um Länder und Kommunen zu entlasten. Zum anderen hat die Regierung ein gesondertes Hilfspaket für Unternehmen geschnürt. Derzeit mache der Ergänzungsetat daher schon mindestens 35 Milliarden Euro aus, heißt es.

Rüstungshilfe für Ukraine

Nach der Ankündigung einer Rüstungshilfe für die Ukraine in Höhe von zwei Milliarden Euro wächst der Ergänzungsetat nun in Richtung 40 Milliarden. Mit diesem Schritt will Kanzler Olaf Scholz (SPD) der Kritik auch in den eigenen Reihen entgegenwirken, die Koalition tue zu wenig bei der Waffenhilfe für die überfallene Ukraine. Ob die Ankündigung der zwei Milliarden reicht, wird sich zeigen. Fließen kann das Geld ohnehin erst, wenn die Etats verabschiedet sind – was auch für die Entlastungsmaßnahmen gilt.

Die neuen Schulden für den Ergänzungsetat begründet die Koalition mit dem Ukraine-Krieg und seinen Folgen, wofür die Nutzung der Notfallklausel der Schuldenbremse im Grundgesetz vorgesehen ist.

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Die ohnehin geplante Neuverschuldung im normalen Etat in Höhe von 100 Milliarden Euro wird auch über die Notfallklausel ermöglicht, in diesem Fall aber wegen der Corona-Pandemie. So wurde im Januar auch schon die zusätzliche Kreditaufnahme im Nachtragsetat für 2021 gerechtfertigt, die bei 60 Milliarden Euro liegt und auf eine schuldenfinanzierte Rücklage hinausläuft (die Unions-Fraktion im Bundestag klagt gegen das Manöver).

Belastungsprobe für Schuldenbremse

Das schuldenfinanzierte Sondervermögen für die Bundeswehr in Höhe von ebenfalls 100 Milliarden Euro dagegen will die Koalition über eine nur für das Militär geltende Sonderklausel ermöglichen, die neu in die Verfassung eingefügt wird (für dieses Manöver wird die Unions-Fraktion wegen der nötigen Zweidrittelmehrheit gebraucht).

Dies alles bedeutet auch eine Belastungsprobe für die Schuldenregel. Addiert man die Pläne, steuert die Bundesrepublik auf ein Rekordschuldenjahr mit möglicherweise mehr als 300 Milliarden Euro an neuen Verbindlichkeiten zu.

Immerhin dürfte sich die Europäische Zentralbank mit der Zinswende noch Zeit lassen. Denn die höhere Inflation geht einher mit einer abermaligen Wachstumsdelle – nicht nur wegen des Ukraine-Kriegs. Mit den aufgelebten Lockdowns in China – noch eine neue Realität – könnte sich der wegen des Kriegs und der Teuerung bei Öl und Gas erwartete Konjunktureinbruch verstärken, weil das Lieferkettenproblem sich wieder verschärft.

Unklare Konjunkturaussichten

Die Ampel-Etatpläne basieren bisher auf der Annahme von Januar, die deutsche Wirtschaft werde 2022 um 3,6 Prozent wachsen. Die Wirtschaftsweisen gingen zuletzt von nur noch 1,8 Prozent aus, die fünf großen Wirtschaftsinstitute dagegen sagen 2,7 Prozent voraus. Lindner muss nun konjunkturbedingte Mindereinnahmen und inflationsbedingte Mehreinnahmen abschätzen – keine leichte Aufgabe. Auch hier könnte die Koalition bald gezwungen sein, haushaltspolitisch der Realität hinterherzulaufen.

Steuererhöhungen wird es vorerst jedoch nicht geben. In ein lahmendes Wirtschaftswachstum hinein empfiehlt sich ein solcher Schritt nicht. Lindner kann so Forderungen wie die nach Wiedereinführung eines Solidaritätszuschlags locker abwehren. Vorerst jedenfalls.

Spannend wird es auf diesem Feld erst im Herbst, wenn der Haushalt für 2023 zur Debatte steht. Der „Rheinischen Post“ sagte Lindner jetzt, dass „wir nach der Krise zur Schuldenbremse zurückkehren und auf Steuererhöhungen verzichten“. Er setzt bisher darauf, dass 2023 die Rückkehr zur Normalität gelingt.

Doch was, wenn die Wirklichkeit ihm nicht folgt? Wenn die Krise dann nicht vorbei ist? Lindner und die Ampel könnten dann eines dieser Kernversprechen oder gar beide abschreiben müssen.

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