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Bundeskanzler Scholz hat der Ukraine die "volle Solidarität" zugesichert. Was heißt das?

© picture alliance/dpa/dpa-Pool

Deutschlands Reaktion auf den Einmarsch: Was heißt es, wenn Scholz der Ukraine „volle Solidarität“ zusichert?

Waffenlieferungen soll es nicht geben, sie kämen jetzt ohnehin zu spät. Über die Verpflichtungen, die sich dennoch aus dem Völkerrecht ergeben. Ein Gastbeitrag.

Helmut Philipp Aust ist Professor für Völkerrecht an der Freien Universität Berlin und Associate Fellow der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP).

Als Reaktion auf die russische Aggression hat Bundeskanzler Olaf Scholz der Ukraine „volle Solidarität“ zugesichert. Nicht von ungefähr erinnert diese Formulierung an diejenige von Bundeskanzler Schröder nach den Angriffen des 11. September 2001. Damals diente sie auch zur Vorbereitung der Entsendung deutscher Streitkräfte nach Afghanistan.

Von einem Einsatz der Streitkräfte redet heute niemand und das aus gutem Grund, so ernüchternd dies für die Ukraine sein wird und so völkerrechtlich zulässig ein solcher Einsatz auch wäre. Was kann dann mit voller Solidarität gemeint sein, wenn auch Waffenlieferungen nicht in Frage kommen sollen? Auf diese sollte man sich jetzt in der Tat nicht mehr konzentrieren, denn sie kämen jedenfalls jetzt zu spät, um die aktuelle russische Aggression noch abzuwehren und fielen am Ende vermutlich nur den Falschen in die Hände.

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Über den Sinn und Zweck von Wirtschaftssanktionen wird ebenfalls breit diskutiert. Der Logik solcher Maßnahmen entspricht es, die Kosten für den Einsatz militärischer Gewalt in die Höhe zu treiben. Völkerrechtlich ist zwischen Gegenmaßnahmen und reinen so genannten Retorsionen zu unterscheiden. Der Unterschied liegt darin, dass eine Gegenmaßnahme ihrerseits an und für sich rechtswidrig, als Reaktion auf einen Rechtsbruch aber ausnahmsweise zulässig sein soll.

Die Nichtzertifizierung von Nord Stream 2 ist nur ein unfreundlicher Akt

Die Retorsion ist ein bloß unfreundlicher Akt. Um einen solchen handelt es sich bei der vorläufigen Nichtzertifizierung von Nord Stream 2, zu deren  Inbetriebnahme es keine völkerrechtliche Pflicht gibt. „Alles sinnlos“ wird der Ergreifung von weiteren Wirtschaftssanktionen nun oft entgegengehalten – Putin habe diese Sanktionen bereits eingepreist. Es wäre jedoch aus drei Gründen verfehlt, deshalb auf Sanktionen zu verzichten: Erstens wäre ein Ausblieben der Sanktionen dann gleichsam eine Prämie für den Aggressor, der dann nicht einmal wirtschaftliche Einbußen als Konsequenz seines eklatanten Völkerrechtsbruchs zu verbuchen hätte.

Zweitens sind weitreichende Sanktionen ein wichtiges Signal der Einigkeit der Mitgliedstaaten von Nato und EU. Ohne ein solches Signal würde der abschreckende Charakter der Ausrufung eines Bündnisfalls nach dem Nato-Vertrag leiden. Die Ausrufung des Bündnisfalls aus Artikel 5 des Nato-Vertrags alleine löst keinen Automatismus aus. Diese Bestimmung verpflichtet die Vertragsparteien, einen bewaffneten Angriff auf einen der Mitgliedstaaten als Angriff gegen sie alle zu verstehen und die Maßnahmen zu ergreifen, die „sie für erforderlich“ erachten.

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Rechtlich gibt es hier Spielraum, kann doch jeder einzelne Nato-Staat für sich entscheiden, was die Erforderlichkeit hier bedeutet. Fällt jedoch schon die Reaktion auf die russische Aggression gegenüber der Ukraine halbherzig aus, würde auch die Ausrufung eines Bündnisfalls ganz erheblich an Bedeutung verlieren. Die abschreckende Wirkung der Ausrufung eines Bündnisfalls beruht ganz erheblich darauf, dass kein Zweifel an der Bereitschaft aller Mitgliedstaaten aufkommt, die Bestimmung mit Leben zu füllen.

Drittens würden weitreichende Sanktionen zur normativen Stabilisierung des Gewaltverbots und der Völkerrechtsordnung beitragen. Das Völkerrecht erwartet von allen Staaten zunächst, schwerwiegende Verletzungen von zwingenden Normen wie dem Gewaltverbot nicht anzuerkennen, sie nicht zu unterstützen und durch Kooperation zu überwinden. Anders als nationales Recht entwickelt sich Völkerrecht zudem auch durch ein Zusammenspiel von Praxis und der Verlautbarung von Rechtspositionen weiter.

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Es ist auffällig, dass auch der russische Präsident versucht, die russische Aggression als völkerrechtskonform darzustellen. Ob das ernst gemeint ist? Oder handelt es sich nur um Propaganda für interne Zwecke? Wir wissen es nicht. Gleichwohl sind die russischen Rechtsbehauptungen nicht irrelevant, so absurd sie auch anmuten. Wir erleben den Versuch einer Umdeutung der Völkerrechtsordnung, worauf auch der Münchner Völkerrechtler Christian Walter hingewiesen hat. Die Gefahren dieses Unterfangens müssen klar benannt werden.

Die Rechtfertigungsversuche Putins überzeugen jedenfalls allesamt nicht: Weder stand ein bewaffneter Angriff der Ukraine auf Russland im Raum, noch können die kurz vor Invasion hastig anerkannten Volksrepubliken in Donezk und Luhansk sich wirksam auf das Staaten vorbehaltene Recht Selbstverteidigung und zu einer Befugnis zur Einladung fremder Truppen berufen.

Auf falschen Prämissen wird in der Sprache des Völkerrechts argumentiert

Und von einem Genozid gegen die russische Bevölkerung in der Ostukraine kann schon gar keine Rede sein. In allen drei Punkten charakterisiert die russische Position, dass sie jeweils von falschen Prämissen ausgeht und dann versucht, auf der Grundlage dieser Prämissen in der Sprache des Völkerrechts und vermeintlich kohärent weiter zu argumentieren.

Nun lautet ein russischer Einwand, auch der Westen habe in der Vergangenheit viele Völkerrechtsverstöße begangen, womit die Fälle Kosovo, Irak, Libyen und Syrien gemeint sind. Der Vorwurf mag in einigen Fällen durchaus zutreffen. Putins Schlussfolgerung ist aber verfehlt. Aus dem Rechtsbruch anderer kann sich keine Rechtfertigung für eigenes rechtswidriges Verhalten ergeben, erst recht nicht zulasten eines Drittstaats wie der Ukraine.

Ohne das Völkerrecht wäre die Beurteilung nur noch subjektiv

Der Verweis auf westliche Verstöße gegen das Völkerrecht entlarvt zudem den hohlen Kern von Putins Argumenten: Seht her, auch wir dürfen gegen das Recht verstoßen, wenn „der Westen“ dies auch andauernd tue. Eine solche zweigleisige Argumentationsstruktur legte Putin auch bereits 2014 nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim zutage.

Müssen wir uns vor dem Hintergrund dieser Konstellation vom Gewaltverbot verabschieden? Nein! Es ist richtig, dass diese zentrale Norm der Völkerrechtsordnung immer wieder missachtet wird. Ohne das Völkerrecht wäre die Bewertung des russischen Vorgehens aber nur noch am Maßstab rein subjektiver politischer und moralischer Standards möglich und würde sich im Raunen über geopolitische Einflusssphären verlieren.

Das Völkerrecht ist die Sprache, an der das Verhalten aller Staaten zu messen ist. Sein Gewicht wird größer, wenn es nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten verteidigt wird. Sanktionen und weitere Reaktionen auf die russische Aggression mögen Putin nicht unmittelbar von seinem Kurs abbringen. Sie sind aber eine langfristige Investition in eine Völkerrechtsordnung, die Gewaltanwendung weiter ächten soll.

Helmut Philipp Aust

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