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Die Großen unter sich: Angela Merkel und Wladimir Putin

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Deutschlands Blick nach Osten: Die Mär von unserem Nachbarn Russland

Viele Deutsche betrachten Russland als unseren Nachbarn und Partner. Die lästigen Anliegen von Polen, Balten und Ukrainern sind aus dieser Sicht zweitrangig. Gefühlte und reale Geografie sind offenbar zweierlei. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Die Deutschen geben ihren Nachbarn oft Rätsel auf. Mal wirken sie streng und genau, mal voller Romantik. Von Berlin nach Dublin sind es 1700 Kilometer. Wer die Strecke fährt, muss drei Staatsgrenzen überqueren. Wie viele Deutsche kämen auf die Idee, die Iren „unsere Nachbarn“ zu nennen? Zwischen Berlin und Moskau liegen ebenfalls drei Staatsgrenzen und 1800 Kilometer. Dennoch behaupten viele Deutsche, die Russen seien Nachbarn; wir dürften sie nicht verlieren, schon gar nicht wegen der Ukraine.

Die Osteuropäer werden als Störenfriede hingestellt

Gefühlte und reale Geografie sind offenbar zweierlei. In solchen Aussagen schwingt jedoch mehr mit: eine Weltanschauung. Wie nah fühlen wir uns den direkten Nachbarn im Vergleich zu den nächsten und übernächsten Ländern? Kaum ein Deutscher würde wohl fordern, das gute Verhältnis zu Irland sei so wichtig, dass die Beziehungen zu den dazwischen wohnenden Völkern – Franzosen, Belgier, Niederländer und Briten – im Zweifel zurückstehen müssten.

Beim Blick nach Osten scheint eine solche Argumentation zu greifen. In Talkshows und Internetforen gelten die Russen als unsere Partner. Die Polen, Balten, Ukrainer, von deren praktischen und historischen Erfahrungen mit Russland wir viel lernen könnten, werden als Störenfriede hingestellt, die unser gutes Verhältnis zu Russland unnötig komplizieren. Oder als Kleinkinder, die besser schweigen, wenn die Großen miteinander reden. Manche erinnert das an Hitler und Stalin. Im ostmitteleuropäischen Raum zwischen Deutschland und Russland leben heute 190 Millionen Menschen. Sie sind mehr unsere Nachbarn und Partner als die 140 Millionen Russen. Unser Handel mit ihnen beträgt ein Vielfaches des Handels mit Russland.

Es folgt nichts außer "njet"

Ähnlich gefühlig und kontrafaktisch ist der Umgang mit Völkerrecht und Verträgen. Jeder Staat hat das Recht, frei zu wählen, welchen Handels- und Bündnissystemen er beitritt. Russland hat dieses Prinzip mehrfach unterschrieben. Dennoch hält sich die Behauptung, Russland könne legitime Einflusssphären beanspruchen. Und der Westen habe 1990 versprochen, die Nato nicht zu erweitern. Diese Mär hält sich weiter. Die Fakten: 1990 ging es allein um das Gebiet der damaligen DDR. Der Warschauer Pakt bestand noch. Hunderttausende Sowjetsoldaten waren bis 1994 in Ostdeutschland und Polen stationiert. 1990 war eine Ausdehnung der Nato nach Osten kein Thema – und ebenso wenig der Verzicht darauf.

Es gibt auch gefühlte Kommunikation. Kein Tag vergeht ohne die Warnung, man dürfe das Gespräch mit Russland nicht abbrechen. Dabei ist das Problem gar nicht, dass Kanzlerin Merkel und Außenminister Steinmeier nicht mit Moskau reden – das tun sie –, sondern dass auf diese Gespräche nichts folgt außer „Njet“ oder Zusagen, die Putin gleich wieder bricht.

Gerade rüstet er sich für den nächsten Vorstoß. Der Westen rätselt noch, ob es nur um den Flughafen von Donezk oder die Landbrücke zur Krim oder gleich den Durchmarsch bis Transnistrien geht. Vielleicht will er nur werden, was er für seine deutschen Freunde schon ist: unser direkter Nachbar.

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