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Kanzlerin Angela Merkel und der russische Präsident Wladimir Putin trafen sich im Dezember 2019 beim Ukraine-Gipfel in Paris.

© Charles Platiau/Reuters

Deutschland, Russland und der Fall Nawalny: Baustopp von Nord Stream 2 wird es wohl nicht geben

Dem russischen Oppositionsführer Alexej Nawalny geht es besser. Doch seine Vergiftung bringt nun die Bundesregierung in Zugzwang. Eine Analyse.

Über die Nachricht aus der Berliner Charité zeigte sich die Bundesregierung „sehr erleichtert“: Der russische Oppositionsführer Alexej Nawalny konnte aus der stationären Behandlung entlassen werden. Nach seiner Vergiftung mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok hatte Nawalny, der am 22. August in einer dramatischen Rettungsaktion nach Deutschland geflogen worden war, einen Monat in der Berliner Klinik verbracht, insgesamt 16 Tage lag er im Koma.

Anfangs waren die Ärzte nicht sicher, ob der 44-Jährige bleibende Schäden davontragen würde. Nun sieht seine Prognose deutlich günstiger aus: „Die behandelnden Ärzte halten auf Grund des bisherigen Verlaufs und des aktuellen Zustandes des Patienten eine vollständige Genesung für möglich“, erklärte eine Sprecherin der Charité am Mittwoch.

Doch klar ist auch, dass die Genesung des russischen Oppositionellen noch lange dauern kann. Nawalny muss derzeit vieles, was Gesunden selbstverständlich erscheint, mühsam lernen. Er könne noch nicht mit der Hand schreiben, auf einem Bein stehen oder mit der linken Hand einen Ball werfen, berichtete Nawalny am Mittwoch auf Instagram.

Seine Behandlung ist also noch keineswegs beendet. Mit einer täglichen Physiotherapie versucht er, wieder Kontrolle über seine Finger zu erlangen und seinen Gleichgewichtssinn zu verbessern. Außerdem kündigte er an, dass er möglicherweise in eine Reha-Klinik gehen werde. Ein Foto, das Nawalny auf Instagram postete, zeigt ihn auf einer Bank in einem Park.

Der russische Oppositionsführer Alexej Nawalny wurde am Dienstag aus dem Krankenhaus entlassen.
Der russische Oppositionsführer Alexej Nawalny wurde am Dienstag aus dem Krankenhaus entlassen.

© Instagram/navalny/dpa

Dass er dauerhaft in Deutschland bleiben würde, gilt allerdings als ausgeschlossen. Nawalny soll bereits den Wunsch geäußert haben, nach Russland zurückzukehren und seine Arbeit fortzusetzen.

Während sich Nawalnys Zustand Schritt für Schritt verbessert und er auf eine Rückkehr in ein normales Leben hinarbeitet, wird die Situation für die Bundesregierung derzeit nicht einfacher. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat den Fall Nawalny in für sie ungewöhnlicher Deutlichkeit zu einem Prüfstein gemacht, an dem sich ihre künftige Russlandpolitik ausrichtet. Nachdem ein Labor der Bundeswehr den chemischen Kampfstoff Nowitschok in Proben Nawalnys nachgewiesen hatte, forderte Merkel von Russland Aufklärung und drohte andernfalls mit Konsequenzen. Das ist mittlerweile drei Wochen her. Doch die gewünschten Antworten aus Russland blieben aus. Bisher gebe es da „leider nichts Neues“, sagte der Regierungssprecher Steffen Seibert am Mittwoch.

Mehr als einen Monat nach der Vergiftung Nawalnys haben russische Behörden noch kein staatsanwaltliches Ermittlungsverfahren eingeleitet. In den vom Kreml kontrollierten Medien wurden stattdessen Desinformationen verbreitet – bis hin zu der kruden Theorie, Nawalny sei erst im Rettungsflugzeug oder in der Charité vergiftet worden.

Dass die Verbreitung solcher Falschmeldungen Methode hat, musste kürzlich der französische Präsident Emmanuel Macron erleben: Der russische Staatschef Wladimir Putin versuchte ihm in einem Telefonat nahezulegen, Nawalny könne selbst mit Nowitschok hantiert und sich dabei vergiftet haben. Außerdem soll Putin einem Bericht der Zeitung „Le Monde“ zufolge seinem französischen Kollegen weitere Theorien präsentiert haben, wie Nawalny ohne eine Beteiligung russischer Stellen vergiftet worden sein könnte. In Frankreich ist nun von Macrons „Merkel-Moment“ die Rede.

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Die Äußerung Putins bedeutet für die Bundesregierung auch, dass sie mit der vom Kreml geforderten Aufklärung nicht mehr rechnen kann. Das bringt nun die Kanzlerin in Zugzwang – denn den deutlichen Worten Anfang September müsste sie in absehbarer Zeit eine Reaktion folgen lassen.

Nach der Vergiftung Nawalnys wurden in Deutschland Forderungen laut, die umstrittene Erdgaspipeline Nord Stream 2 endgültig oder vorerst zu stoppen. Auch Merkel und Außenminister Heiko Maas (SPD) schlossen eine solche Reaktion nicht mehr grundsätzlich aus. Doch gegen Nord Stream 2 hatten sich vor allem diejenigen ausgesprochen, die schon von Anfang an gegen die Pipeline waren, beispielsweise der CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen sowie die Grünen. Von einem Stimmungsumschwung innerhalb der Koalition, die das Projekt bisher unterstützt hätte, war nichts zu erkennen.

Scholz erteilt einem Baustopp von Nord Stream 2 indirekt eine Absage

Mittlerweile gilt es in Berlin als höchst unwahrscheinlich, dass die Bundesregierung Nord Stream 2 tatsächlich stoppen würde. Als erstes Regierungsmitglied meldete sich dazu nun Vizekanzler Olaf Scholz (SPD) zu Wort. Einem Baustopp für die Pipeline erteilte er indirekt eine Absage. Nord Stream 2 sei kein „staatliches deutsches Projekt“, sondern ein „privatwirtschaftliches Energieprojekt, an dem sehr viele Unternehmen beteiligt sind“, sagte der Bundesfinanzminister der „Augsburger Allgemeinen“.

Ob Scholz die Position der gesamten Bundesregierung und damit auch der Kanzlerin zum Ausdruck gebracht habe, wollte Seibert am Mittwoch nicht sagen. Die Bundeskanzlerin, der Vizekanzler und der Außenminister seien „im engen und guten Kontakt“, sagte er lediglich. Nach einem Alleingang des Finanzministers klingt das keineswegs.

In Berlin wird erwartet, dass als Reaktion auf den Fall Nawalny gezielte personenbezogene Sanktionen verhängt werden könnten. Dafür bedarf es allerdings der Abstimmung mit den übrigen EU-Staaten. Wie bei den bisherigen Russland-Sanktionen kann sich die Bundesregierung innerhalb der EU eigentlich einer breiten Unterstützung sicher sein. Allerdings hat der Streit um EU-Sanktionen gegen Belarus gezeigt, dass selbst dann eine rasche Einigung innerhalb der Europäischen Union schwierig ist.

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