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Teilnehmer einer Schweigeminute für den Getöteten in Chemnitz.

© Hannibal Hanschke/REUTERS

Deutschland nach Chemnitz: Ein Kulturkampf wie in den USA kann noch vermieden werden

Chemnitz zeigt: Deutschland droht zu zerreißen. Doch die große Koalition ist gefangen im Angstpragmatismus. Ein Gastbeitrag.

Ich mache mir Sorgen um mein Land. Ich glaube, das darf man in diesen Wochen sagen. Erst recht nach Chemnitz. Ein Kulturkampf, wie wir ihn aus den USA kennen, scheint auch in Deutschland nicht mehr ausgeschlossen. Wie geht man mit der Zerrissenheit und der Debattenhitze im Land um? Meine Haltung ist: Wir sollten einen kühlen Kopf bewahren. Wir brauchen eine neue Realpolitik.

Dazu gehört zuerst Differenzierung. Wir müssen einerseits sagen, dass es gilt, sich den Nazis entgegenstellen. Hier gilt es, Haltung zu zeigen gegen Rassismus – parteiübergreifend.

Es gibt sie, die Bürger von Chemnitz, die sich einfach Sorgen machen

Aber es gibt eben auch jene Menschen, die die Ereignisse in Chemnitz verfolgen und sich Sorgen machen, weil dort ein Mann getötet wurde, mutmaßlich von einem Iraker und einem Syrer. Einer von ihnen hätte längst abgeschoben sein sollen. Was aber passiert, wenn Menschen, die sich solche Gedanken machen, von rechts mitgerissen werden? Man könnte sagen: Eine Mitte, die sich nicht klar abgrenzt, verortet sich durch Unterlassen rechts. Man könnte sagen, der „besorgte Bürger“ habe sich moralisch disqualifiziert.

Die Realität ist: Es gibt in der Mitte Menschen, die sich gegenüber rechten Demos nicht distanzieren, aber trotzdem anständige Leute sind. Wegen ihnen sollte man kurz innehalten, bevor man ganz Sachsen zum Sumpf erklärt. Man kann ein guter Mensch sein und sich doch Realismus wünschen. Wer das negiert, der kann Menschen auch in etwas treiben, wohin sie eigentlich gar nicht wollen. Differenzierung ist kein Dammbruch. Es gibt nicht nur Schwarz und Weiß.

Das Institut Ipsos unterscheidet in einer Umfrage fünf etwa gleich große Gruppen nach ihren Grundeinstellungen zu Einwanderung und Flüchtlingen: Humanitäre Skeptiker, liberale Weltbürger, wirtschaftliche Pragmatiker, gemäßigte Gegner und radikale Gegner. Auf Twitter gewinnt man allerdings den Eindruck, als gebe es nur liberale Weltbürger und radikale Gegner. Twitter ist das Medium, in dem Journalisten und Politiker testen und erfahren, was in „ihrer“ Gruppe und Denkrichtung sagbar und nicht sagbar ist. Dass dort eher die Extreme vertreten sind, sorgt für eine Verengung politischer Diskursführung.

Die Debatte zu Chemnitz ist überhitzt. Differenzierung fehlt

Ich glaube, dass man Differenzierung leisten muss. Realismus und ein kühler Kopf bewahren unser Land davor, sich weiter in einen Kulturkampf zu verstricken. Realismus kann zum Beispiel bedeuten, einen härteren Umgang mit kriminellen abgelehnten Asylbewerbern zu finden, es kann aber auch bedeuten, mehr Geld für die Arbeitsmarktintegration von Flüchtlingen auszugeben. Mehr innere Sicherheit beruhigt Zweifler der Flüchtlingspolitik genauso wie Flüchtlinge und Deutsche mit arabischem Aussehen, die sich anständig verhalten und Angst davor haben, dass der Staat sie nicht vor dem rechten Mob schützen kann.

Realismus bedeutet im zweiten Fall, vorsorgend zu agieren, damit man nicht Fehler in der Integrationspolitik begeht, die andere Länder vor uns schon begangen haben. In Frankreich etwa haben sich Vorstädte und Wohnblocks voller Menschen ohne Perspektive gebildet und unnötig politische Konflikte befördert. Wer jetzt mehr Geld ausgibt, um Flüchtlinge zu qualifizieren und in Arbeit zu bringen, sorgt dafür, dass Integration eher gelingt. Das ist im Interesse des sozialen Friedens.

Was es jetzt nicht braucht, ist der ängstliche Pragmatismus der großen Koalition

Der hier gemeinte Realismus ist allerdings nicht gleich Pragmatismus. Der neue Regierungspragmatismus ist nämlich ein Elend. Die politische Mitte wirkt zurzeit wie eingepfercht in einer Logik des kleinstdenkbaren Kompromisses. Die Große Koalition verhindert – zumindest bislang –, dass sichtbar wird, dass man „da in Berlin“ eigentlich nicht dasselbe will.

Über Digitalisierung, eine neue Industriepolitik, Soziales, die Arbeit der Zukunft und die Folgen des demographischen Umbruchs, und ja, auch über innere Sicherheit und die richtige Migrations- und Integrationspolitik muss in der Sache hart gestritten werden. Doch das passiert wenig. Der Koalitionsvertrag ist ein Angstpapier in einer Zeit, in der ein instabil gewordenes Land mal wieder den großen Wurf bräuchte.

Was wir brauchen? Eine Rechte, die sich auch Rechte nennt. Eine Linke, die sich auch Linke nennt. Was wir nicht brauchen: dieses unsägliche Propagandakonstrukt "Mitte", die ideologiebefreite Zone des politischen Eunuchentums.

schreibt NutzerIn hanebutt

Statt pointierter Debatte in der Sache, bekommen wir den Kulturkampf. Während unter Angela Merkel weiterhin Politik kaum stattfindet, heizt sich das Land im Diskurs über Migration und Integration auf. In diesem neuen Kulturkampf kommt es zu publizistischen Übertreibungen. Gewinnen können da nur die beiden Antipoden der Debatte, die Grünen und die AfD. Die Volksparteien werden dazwischen zerrissen. Das schadet dem Land, denn sie haben es lange gut stabilisiert, indem sie Sprachrohr divergierender Interessen waren.

Wir brauchen eine Rückkehr des gesunden politischen Streits in Deutschland, getragen von den beiden Volksparteien. Wenn sie das in der Großen Koalition nicht mehr hinbekommen, sollten sie Schluss machen.

Nils Heisterhagen ist Sozialdemokrat und Autor des Buches „Die liberale Illusion. Warum wir einen linken Realismus brauchen“ (Dietz-Verlag).

Nils Heisterhagen

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