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Kann auch gut aussehen: Würstchen und Kartoffelsalat schmeckt den Berlinern auch am Heiligen Abend. Oder da erst recht?

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Deutsches Weihnachtsessen: Wie eine Französin den Kartoffelsalat lieben gelernt hat

In Frankreich wird Weihnachten luxuriös getafelt, Stress, Streit und Geschrei in der Küche inklusive. Und in Berlin? Gibt es stattdessen Würstchen mit Kartoffelsalat - und alles ist gut. Merci bien!

Truthahn mit Maronenfüllung, dazu Süßkartoffelpüree und grüne Bohnen? Goldgebackene Gans auf einem Rosenkohlbett? Austern und Foie Gras? Oder lieber Hummer und Kaviar? Köstlichkeiten, die sich die meisten von uns an der Weihnachtstafel wünschen. Und wie so oft machen Berliner die Ausnahme. Wer fragt, kriegt unverzüglich, mit schelmischem Grinsen, die Antwort: Wiener mit Kartoffelsalat.

Als mir das erste Mal jemand dieses bescheidene Menu vordiktiert hat, dachte ich, da hat sich einer in Saison und Anlass getäuscht. Ein Gericht für einen Kindergeburtstag, ja. Für ein Picknick im Strandbad Wannsee oder auf der Kirmes in den Schulferien. Aber für Weihnachten? Vielleicht haben die Berliner, Atheisten die sie sind, die Rituale verwechselt? Weihnachten Gürtel enger schnallen, dafür Völlerei vor Ostern. Oder vielleicht sind die Berliner die letzten Verfechter ursprünglicher Weihnachtsriten, die alle anderen schon vergessen haben. Die Idee vom Heiligabend als Moment des Innehaltens, des Fastens und der Abstinenz.

Eine andere Erklärung lernte ich von den früheren Bewohnern meiner Straße. Überlebende aus den Familien des jüdischen Bürgertums. Heiligabend gaben sie dem Dienstmädchen frei. Sie bereiteten den Hausherrn eine kalte Platte vor, hingen ihre Schürze an die Küchentür und gingen zu ihren eigenen Familien. Erst am ersten Weihnachtstag füllten sich die Tische mit opulenten Menüs.

Ich muss gestehen, dass ich erst vollkommen geschockt und voller Verachtung auf diesen puritanischen Brauch des Wiener-und-Kartoffeln-Essens herabblickte. Um zu verstehen, wie übergriffig mir dieses Menu vorkam, muss man den Ton hören, der mit den Worten mitschwingt: In diesen Zeiten des Hyperkonsums, der Übertreibung und des selbstverursachten Stress, wollen wir nicht Teil des Problems sein. Also: keine Völlerei, sondern Simplizität und Entspannung. Die wahre Rebellion!

Kein Kopfzerbrechen. Kein Leistungsdruck. Kein Kochbuch

Wir sitzen einfach gemütlich um den Weihnachtsbaum, essen unsere Würstchen mit Kartoffelsalat während die anderen stundenlang, mit roten Backen und knurrendem Magen, zwischen Küche und Wohnzimmer hin und her hetzen. Und streiten! Es wird Geschrei geben, Weinkrämpfe, Groll und Befindlichkeiten. Bis dann alle Anwesenden auf ihren Stühlen zusammensacken, der trockene Truthahn mit seinen krummen Maronen in der Mitte.

Und wir, jubeln die Berliner, werfen stattdessen unsere Würstchen in den Kochtopf. Fünf Minuten später legen wir sie auf ein Bett aus Kartoffelsalat, der schon seit gestern im Kühlschrank wartet, dann, hopp, einen Klecks Senf an den Tellerrand und gut ist. Dazu ein Glas Wein oder besser, ein Bier.

Keiner hat sich den Nachmittag für den Truthahn versklavt und gespart hat man auch noch! Kein Kopfzerbrechen. Kein Leistungsdruck. Die Kochbücher bleiben in den Regalen. Niemand erwartet kulinarischen Heroismus, und Last-Minute-Katastrophen sind auch ausgeschlossen. Bei Wiener Würstchen kann man wirklich nichts falsch machen. Ebenso beim Kartoffelsalat: matschig, schlaff, langweilig. Alle Jahre wieder. Und wir werden alle Zeit der Welt haben, um den Baum zu dekorieren, die Geschenke auszupacken, mit den Kindern zu spielen. Wir werden stählerne Nerven haben, um mit alten Familienquerelen umzugehen, die unweigerlich an diesem Abend hochkochen werden. Ein Segen.

Mit Würstchen und Kartoffeln im Hinterkopf haben die Berliner die Konventionen überkommen, die über Generationen zur bürgerlichen Ordnung gehören: 16 Uhr Kindermesse. 18 Uhr Prosecco und Bescherung. 19 bis 20 Uhr: Streit in der Küche. 20 Uhr: Alle am Tisch, Ellbogen angelegt, Rücken gerade. Ein echter Berliner hingegen nimmt sich Zeit zum Leben. Joyeux Noël!

- Aus dem Französischen übersetzt von Fabian Federl.

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