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Gut bewacht am Strand. Nach dem Terroranschlag auf ein Hotel in Sousse zeigen tunesische Sicherheitskräfte Präsenz.

© Mohamed Messara/dpa

Deutscher Afrikapreis für den tunesischen Gewerkschafter Houcine Abassi: Soll man jetzt nicht mehr nach Frankreich fahren?

Der tunesische Friedensnobelpreisträger Houcine Abassi über den Terror und seine Folgen für Tunesien. Er gehört zum Nationalen Dialogquartett, das die Revolution in Tunesien 2013 gerettet hat. Ein Interview.

Tunesien leidet schon lange unter dem Terrorismus. Ich erinnere mich an das Attentat auf die Al-Ghriba-Synagoge in Djerba 2002. Im Frühjahr ereignete sich ein Anschlag auf das Bardo-Museum in Tunis und im Juni griffen Terroristen eine Hotelanlage in Sousse an. 40 Menschen starben. Warum Tunesien?

Die Terroristen wissen, wie abhängig, die tunesische Wirtschaft von Tourismus ist. Aber Terrorismus ist ein Importphänomen in Tunesien. Selbst der Anschlag in Djerba ist ein isoliertes Ereignis gewesen. Die Sicherheitslage war in Tunesien seit der Unabhängigkeit bis in die nach-revolutionäre Zeit hinein stabil. Etwa ein Jahr nach der Revolution wurde Tunesien dann bewusst von Terroristen zur Zielscheibe gemacht. Tunesien geriet ins Visier der Terroristen, weil diese der Ansicht waren, dass Tunesien gut voran kam auf dem Weg zu einem zivilen, demokratischen, freiheitlichen Staat. Und weil in Tunesien durchaus alle Elemente vorhanden waren, um einem modernen Gesellschaftskonzept zum Erfolg zu verhelfen, und ein friedliches Zusammenleben voranzubringen. Eine Gesellschaft, die an die Menschenrechte glaubt und an die in Tunesien bereits umgesetzten Frauenrechte. Das ist die tunesische Gesellschaft, wie wir sie schon aus der Zeit vor der Unabhängigkeit kennen. Die Terroristen haben eine ganz andere Vorstellung davon, wie eine Zivilgesellschaft auszusehen hat: Sie wollen ins Mittelalter zurück. Sie glauben nicht an das Prinzip einer Verfassung und nicht an die Frauenrechte. Trotz all der Schwierigkeiten, bin ich dennoch überzeugt, dass die moderne Zivilgesellschaft siegen wird. Aber der Kampf ist noch nicht beendet. Er wird weiter gehen.

Wie erklären Sie sich, dass ausgerechnet aus Tunesien nach Schätzungen des tunesischen Innenministeriums rund 3000 junge Männer nach Syrien gereist sind, um mit dem selbst erklärten „Islamischen Staat“ zu kämpfen?

Tunesien ist nicht das einzige Land ist, aus dem junge Männer sich an Terroranschlägen im Irak und in Syrien von Daesch („Islamischer Staat“) beteiligen. Sie kommen aus vielen afrikanischen und europäischen Ländern, im Sommer waren auch mehr als 1600  junge Franzosen auf der Seite von Daesch im Kampf. Darunter gibt es einige, die zutiefst davon überzeugt sind, dass sie einen islamischen Staat nach dem Modell in Syrien und im Irak  aufbauen möchten. Aber das sind im Verhältnis zu allen jungen Leuten in Tunesien nur sehr wenige. Andere haben sich vom ihnen angebotenen Geld verführen lassen, weil sie in Tunesien keine Arbeit finden konnten und meinten, so der Armut entfliehen zu können. Tunesien ist selbst eine muslimische Gesellschaft. Aber der Islam bei uns ist aufgeklärt und gemäßigt. Ein Islam, der nicht zu Terrorismus aufruft und nicht dazu, sich gegenseitig zu bekriegen. Es gibt islamistische Parteien wie die Ennahda-Partei, die aber dennoch am Ziel eines demokratischen Staates festhält, die an eine Koexistenz von Islam und Demokratie glaubt. Sie akzeptiert die Frauenrechte. Sie ist eine gemäßigte islamische Partei, die für einen zivilen und demokratischen Staat eintritt, für Meinungs- und Religionsfreiheit einsteht. Obwohl sie eindeutig islamistisch geprägt ist, tut sie das im demokratischen Rahmen. Diese Partei glaubt durchaus daran, dass die Machtfrage in einer Demokratie  durch Wahlen entschieden wird und nicht durch Gewalt. Und dass man nicht anderen gewaltsam versuchen kann, seine Ideologie aufzuzwingen. Bei den Terroranschlägen in Paris war übrigens kein Tunesier als Täter dabei, nur unter den Opfern sind auch Tunesier. Es ist also kein tunesisches Phänomen sondern ein weltweites. Die Bekämpfung des Terrorismus fordert eine internationale Koordination und Kooperation.

Die Angst der Touristen vor dem Terror

Sie haben gefordert, die Reisewarnungen westlicher Staaten vor Tunesien aufzuheben. Aber viele Touristen haben Angst.

Man kann doch nicht gegen jedes Land, in dem einmal ein terroristischer Anschlag stattfindet, Reisewarnungen verhängen! In Frankreich gab es in diesem Jahr sogar zwei große Terrorangriffe. Soll man jetzt nicht mehr nach Frankeich fahren? Terrorismus ist ein internationales Übel, das wir gemeinsam bekämpfen müssen.

Können Muslimbrüder Demokratie?

Ist die Ennahda-Partei in der Regierung  an ihrer Ideologie gescheitert oder an ihrer Unterfahrenheit und vielleicht auch Unfähigkeit?

Zunächst einmal ist das Scheitern der Ennahda nicht ihr allein zuzuschreiben. Es war ja eine Troika, an der noch zwei weitere Parteien beteiligt waren. Für mich ist der Hauptgrund für das Scheitern dieser Regierung kein ideologischer. Denn die Ennahda-Partei hat sich selbstkritisch überprüft und ihre Positionen auch verändert. Die Ennahda akzeptiert ein friedliches Zusammenleben aller Tunesier, egal wo sie politisch stehen oder was sie glauben. Auch die Ennahda steht für einen modernen demokratischen Staat. Es ist auch ein Verdienst der Ennahda-Partei, dass sie sich - mit Hilfe des nationalen Dialogs natürlich - auf unsere heute gültige Verfassung eingelassen hat. Der Hauptgrund war eher, dass die Ennahda jahrelang immer in der Opposition gewesen ist. Sie war unerfahren und befand sich über Nacht an der Spitze des Staates, dessen Geschicke sie lenken sollte. Es fehlte ihr die Erfahrung, wie man ein Land noch dazu durch eine schwierige Übergangsphase steuern könnte. Wegen dieser Überforderung hat sie auch viele Fehler gemacht, die letztlich zu ihrem Sturz führte. Das wäre vermutlich fast allen anderen Parteien genauso gegangen, weil keine Regierungserfahrung hatte. Aber es ist der Ennahda dann ja gelungen, zu zeigen, dass es möglich ist, dass sich ein politischer Islam in der Opposition oder der Regierung auf der Grundlage demokratischer Prinzipien einbringen kann. Das ist eine Errungenschaft der Ennahda-Partei. Auch sie war schließlich überzeugt, dass der Dialog der einzig richtige Weg aus der politischen Krise und der moderne demokratische Staat die richtige Lösung für Tunesien ist. Ohne dieses Bewusstsein auch bei der Ennahda-Partei hätte der Dialog in Tunesien keinen Erfolg gehabt.

Der Nationale Dialog

Sie gelten als einer der Retter der tunesischen Revolution und werden gemeinsam mit drei weiteren Repräsentanten von zivilgesellschaftlichen Organisationen in Kürze den Friedensnobelpreis entgegen nehmen. Sie haben erzählt, dass Sie allein 1700 Stunden in vorbereitenden Gesprächen für den nationalen Dialog verbracht haben. Hatten Sie nicht manchmal das Gefühl: Nein, ich will nicht mit diesem Menschen sprechen?

Houcine Abassi (68) ist am Donnerstag mit dem Deutschen Afrikapreis ausgezeichnet worden. Bundespräsident Joachim Gauck (l) würdigte ihn als "Wegbereiter des friedlichen Wandels" in Tunesien.
Houcine Abassi (68) ist am Donnerstag mit dem Deutschen Afrikapreis ausgezeichnet worden. Bundespräsident Joachim Gauck (l) würdigte ihn als "Wegbereiter des friedlichen Wandels" in Tunesien.

© Britta Pedersen/dpa

Sicher hat es sehr schwierige und gefährliche Phasen gegeben. Es gab Gespräche, in denen ich mich enorm in Geduld üben musste. Ohne meine Geduld und meine Erfahrung wären sie vermutlich gescheitert. Aber es gab keinen Moment, in dem ich das Gefühl hatte, dass ich da  jetzt nicht hingehen oder mich einem solchen Gespräch nicht stellen möchte. Es war mir immer eine Ehre, zu versuchen, alle zusammenzubringen, weil es ja darum ging, die andere Seite davon zu überzeugen, was ich ihr vorschlage. Ich habe natürlich immer versucht, mich gut auf diese Treffen vorzubereiten. Aber ich habe keine fertig formulierten Papiere mitgebracht. Und auch nichts zu schreiben. Ich wollte niemandem das Gefühl zu geben, dass vorher schon alles festgezurrt sein könnte. Manchmal habe ich nach einem Gespräch noch mal etwas aufgeschrieben, um nichts zu vergessen. Aber ich habe die Gespräche weder schriftlich noch mit einem Aufnahmegerät aufgezeichnet. Manche haben sich darüber aber auch gewundert. Ich war präsent, hatte mich vorbereitet, hatte verschiedene Gesprächsverläufe im Kopf durchgespielt. Wichtig war, das Vertrauen meiner Gesprächspartner zu gewinnen und vor allem erst einmal zuzuhören, was sie eigentlich wirklich wollen. Es war ja klar, was ich wollte. Ich wollte, dass der Dialog Erfolg hat. Aber manche kamen da hin, um den Dialog zum Scheitern zu bringen. Ich wollte also zunächst einmal herauszufinden, was sie eigentlich wollen. Ich habe einigen Vertraulichkeit versprochen, um ihr Vertrauen zu erwerben und ihnen zu ermöglichen, ihre Karten auch auf den Tisch zu legen. Es war wichtig, dass diese Gespräche nicht vom gesamten Quartett geführt worden sind, sondern von einer Person mit einer gewissen Glaubwürdigkeit. Dann war es möglich, über Ängste, über Vorschläge zu sprechen. Ich habe dann gefragt: Hast Du mit anderen auch so gesprochen, wie Du jetzt mit mir redest? Dann habe ich verschiedene Argumente von anderen Gesprächspartnern vorgetragen, um Kompromissmöglichkeiten auszuloten.

Der nationale Dialog hat bis zum Erfolg 174 Stunden, gut dokumentiert mit Videoaufzeichnungen und Wortprotokollen, gedauert, haben Sie erzählt. Aber zunächst sah es nicht danach aus, oder?

Nach dem ersten Termin sind zwei wichtige Politiker ermordet worden. Chokri Belaid hatte im ersten Dialog eine wichtige und aktive Rolle gespielt. Dazu hatte die UGTT gemeinsam mit der Rechtsanwaltskammer und der Menschenrechtsliga eingeladen. Fünf Monate nach dem politischen Mord an Belaid wurde Mohamed Brahmi, der Vorsitzende der Partei „Strömung des Volkes“ ermordet. An den beiden Tagen, an denen die Politiker jeweils beerdigt wurden, hatte die UGTT jeweils zu einem Generalstreik aufgerufen. Zur Neuauflage des Dialogs luden wir dann auch den Arbeitgeberverband ein, mit uns gemeinsam eine Road Map aus der Krise zu entwickeln. Wir wollten, dass die Verfassung, über die viel gestritten worden ist, mehrheitsfähig wird, wir wollten schnellstmöglich Neuwahlen sowie einen von allen akzeptierten Wahlausschuss sowie ein konsensbasiertes Wahlgesetz erreichen. Außerdem verlangten wir den Rücktritt der Troika und die Einsetzung einer Übergangsregierung aus Fachleuten.

Warum war der Dialog im zweiten Anlauf erfolgreich?

Weil alle Parteien bereit waren, das Gemeinwohl über ihre kleinen Parteiinteressen zu stellen. Und weil es ein inner-tunesischer Dialog war, der nicht von außen gesteuert worden ist.

Eine stolze Tradition

Worauf führen Sie zurück, dass Sie und ihre Gewerkschaft UGTT ein solches Vertrauen genießen?

Es gab schon lange vor mir, überzeugende Gewerkschaftsführer. Die haben bestimmt noch mehr für Tunesien getan. Die UGTT ist 1946 gegründet worden. Unser Gründervater Farhat Hached hatte von Anfang an im Sinn, mit dieser Gewerkschaft nicht nur eine soziale sondern auch eine politische Rolle zu spielen. Er galt als großes Risiko für die Kolonialmacht Frankreich. Er hatte großen Einfluss auf einen großen Teil der Gesellschaft in dieser Gründungszeit. Deshalb hat die französische Regierung am 5.12.1952 auch einen tödlichen Anschlag auf ihn geplant. Aber nach seiner Ermordung kamen andere Gewerkschaftsführer, die seine Rolle übernehmen konnten. Wir haben eine Reihe von herausragenden Führungskräften gehabt, die immer in Auseinandersetzung mit den Regierungen standen. Habib Achour hat zur Zeit der Einparteienherrschaft auf 40 Seiten schonungslos die Fehlentwicklungen der tunesischen Gesellschaft festgehalten. Dafür hat ihn das Regime von Ben Ali erst vor Gericht gestellt und dann nach Frankreich ausgewiesen. Schon 1947 war er mit der Staatsgewalt in Konflikt geraten, damals starben 30 Menschen und 300 wurden verletzt. Ihn traf eine Kugel am Bein und er schwor sich, sie nicht entfernen zu lassen. Drei Mal ist er vor Gericht gestellt worden, 1965, 1968 und 1986.Weil die UGTT schon immer eine soziale und eine politische Rolle gespielt hat und sich auch nicht hat einschüchtern lassen, genießt sie hohes Ansehen in Tunesien.

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