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Der Berliner SPD-Fraktionschef Raed Saleh hält die Zeit für eine Entschuldigung beim Osten gekommen.

© picture alliance / dpa

Deutsche Einheit: Zeit, sich beim Osten zu entschuldigen!

Zwielichtige Glücksritter, Bevormunder und die Schande der Treuhand: Sie haben das gemeinsame deutsche Projekt von Beginn an schwer belastet. Ein Gastbeitrag.

Auf dem Papier ist vor 28 Jahren zusammengewachsen, was zusammengehört. Seitdem sind wir Deutschen wieder ein Volk. Aber mit dem geeinten Volk ist es so eine Sache. Noch immer fühlen sich große Teile der Bevölkerung in den östlichen Bundesländern als Bürger zweiter Klasse. Für viele „Wessis“ zeigt dieser Befund wiederum, dass es sich bei den Menschen zwischen Ostsee und Erzgebirge eben immer noch um typische „Jammerossis“ handele, was neuen Frust schafft. Und so geht das Aneinander-Vorbeireden immer weiter.

Natürlich haben wir als Nation in den vergangenen 28 Jahren auch sehr viel erreicht. Gerade auch im Osten gibt es immer mehr Landschaften, die blühen. Was dabei vergessen wird: Einheit wird nicht durch Äußerlichkeit erreicht. Echte Einheit wird es nur geben, wenn wir in die Seelen der Menschen blicken und sie zu verstehen suchen. In West und Ost. Gerade ist der Jahresbericht zum Stand der deutschen Einheit herausgekommen. Darin befindet sich ein erschreckender Befund: Weiterhin gebe es erhebliche Unterschiede zwischen alten und neuen Bundesländern – „und die Menschen im Osten spüren das.“ Bei den Mitbürgern im Osten wird ein hohes Maß an Unzufriedenheit und Sorgen erkannt, was natürlich auch mit einer gefühlten Ungleichheit zusammenhängt. Das finde ich alarmierend.

Alle 82 Millionen in Deutschland lebenden Menschen sind gleichberechtigte Bürger unseres Landes. Und da gibt es keine Bürger erster, zweiter oder dritter Klasse. Und jeder Bürger dieses Landes hat seine ganz eigene wertvolle Lebensleistung. Ob das nun der hocherfolgreiche Unternehmer in Stuttgart ist oder die in langen Nachtschichten schuftende, alleinerziehende Krankenschwester in Dessau. Wir in Deutschland strengen uns alle täglich an, wir geben unser Möglichstes und erhoffen eine gewisse Gerechtigkeit für uns alle – ob wir in Hessen wohnen oder in Thüringen, in Schleswig-Holstein oder in Sachsen.

Die Teilungserfahrung gehört zu unserer deutschen Leitkultur

Es ist völlig normal, dass die Menschen in den verschiedenen Regionen Deutschlands unterschiedliche Sozialisationen erfahren, die ihren Alltag prägen. Aber diese unterschiedlichen Sozialisationen kennen auch der protestantische Ostfriese und der katholische Oberbayer, der muslimische Berliner, jüdische Mainzer oder atheistische Hamburger. Doch das bedeutet nicht, dass der eine mehr wert ist als der andere.

Die Unterschiedlichkeit der Menschen, genau wie die Teilungserfahrung gehören zu unserer deutschen Leitkultur. Die bittere Trennung der beiden Teile Deutschlands prägt unsere Gesellschaft vielerorts bis heute. Denn Brüche, schwarze Kapitel und Einbahnstraßen gehören zur Geschichte unserer Nation genauso dazu wie die Weltmeistertitel im Fußball oder beim Export. Natürlich waren die Menschen im Osten heilfroh, dass die elendige sozialistische Diktatur vorbei war. Dass es endlich Reisefreiheit gab, dass die Menschen ihre Familie auch im anderen Teil Deutschlands besuchen konnten und dass sie nicht mehr auf Westpakete warten mussten. Aber der gesellschaftliche Umbruch bedeutete für viele eben auch, dass sie weniger Lohn bekamen – und nach wie vor bekommen – als die Kollegen im Westen, dass sie ihre Arbeit verloren, dass Familien auseinanderbrachen, dass überproportional viele Frauen den Osten verließen, dass es auf einmal Existenzängste gab, die zuvor niemand kannte, dass Städte schrumpften und ganze Landstriche verödeten.

Eine Berlinerin, im Osten geboren, berichtete mir, wie sie mit 17 Jahren vor dem Palast der Republik stand und ein Graffito entdeckte. Irgendjemand hatte mit schwarzem Edding auf die Wand geschmiert: „Die DDR hat nie existiert!“ Da liefen der Frau Tränen über die Wangen. Der dumme Spruch an der Wand stellte für sie eine durchaus relevante Frage dar. „Habe ich etwa nie existiert?“, fragte sie mich lange Zeit danach. „Haben wir in der DDR nicht auch gelebt, geliebt, geheiratet?“

Kein Mensch will permanent belehrt und von oben herab behandelt werden

Natürlich haben auch die Menschen aus der DDR das Recht, auf Teile ihrer frühen Biographien stolz zu sein. Kostenfreie Bildung für alle? Gab es schon in der DDR und musste von uns im Westen erst viele Jahre später hart erkämpft werden. Polikliniken? Eine Erfindung des Ostens. Und wer war der erste Deutsche im Weltall? Sigmund Jähn, Kosmonaut aus dem sächsischen Vogtland. Auch die einzige erfolgreiche friedliche Revolution gab es im Osten. Als die Menschen 1989 in Leipzig, Plauen, Dresden, Berlin oder Magdeburg auf die Straße gingen, da wussten sie nicht, ob sie einige Stunden später noch lebendig nach Hause kommen würden. Das ist politischer Mut, und auf diesen Mut können wir im Westen genauso stolz sein, wie die Menschen im Osten.

Als Knirps in Berlin-Spandau kam ich früh in Kontakt mit Menschen in der DDR. Meine Tante Ursula, die aus Ost-Berlin stammte, war Zeit ihres Lebens mit Onkel Teisir verheiratet. Gemeinsam fuhren sie regelmäßig hinüber, um die Ostverwandtschaft zu besuchen. Gespannt lauschte ich danach den Berichten, und ich ahnte schon damals, dass die Menschen auf der anderen Seite der Mauer anders denken.

Später durfte ich selbst diese Ost-Identität kennenlernen. Bis heute erlebe ich immer wieder, bei Besuchen in Kleingartenkolonien, in Kindergärten, Brennpunktschulen oder Betrieben, bei meinen Ost-Kneipentouren zwischen Buch und Alt-Glienicke, wie die Menschen im Osten fühlen. Ich spüre eine Verbitterung bei vielen Menschen im ehemaligen Osten, spüre, dass sie sich abschätzig behandelt fühlen. In unzähligen Gesprächen mit den Menschen im Osten Berlins, aber auch in Dresden, in Wittenberg, in Anklam oder Jena, habe ich immer wieder eines herausgehört: Es geht den wenigsten um mehr Geld oder ein schnelleres Auto, es geht den meisten einfach darum, Anerkennung zu erfahren. Auch im Osten strengen sich die Menschen an, gerade im Osten mussten die Menschen nach der Wiedervereinigung erhebliche Opfer bringen. Und deshalb sind die Leute dort auch besonders sensibel für gesellschaftliche Veränderungen. Kein Mensch will permanent belehrt und von oben herab behandelt werden.

Die Fehler der ersten Wendejahre und die alten und neuen Gräben

Der Berliner SPD-Fraktionschef Raed Saleh hält die Zeit für eine Entschuldigung beim Osten gekommen.
Der Berliner SPD-Fraktionschef Raed Saleh hält die Zeit für eine Entschuldigung beim Osten gekommen.

© picture alliance / dpa

Doch in den vergangenen Jahren hat zu meinem tiefsten Bedauern eine Tendenz wieder zugenommen, die eigentlich schon überwunden schien: das „Ossi-Bashing“. Wo leben die schlimmsten Neonazis? Klar, in der Sächsischen Schweiz oder in Vorpommern. Aber kaum einer denkt an Ecken wie Dortmund-Dorstfeld, wo aus den Fenstern schwarz-weiß-rote Reichsflaggen wehen und die Rechtsextremen stolz „Nazi-Kiez“ an die Hauswände sprayen. Wenn von sogenannten „hidden champions“ die Rede ist, also von besonders erfolgreichen Nischenunternehmen, die auf dem Weltmarkt führend sind, die aber kaum jemand kennt, dann denken alle sofort an die schwäbische Provinz, an die Region Nürnberg-Fürth-Erlangen oder an den Hamburger Speckgürtel. Aber wer denkt an Südthüringen, Jena oder Sachsen-Anhalt? An Gegenden und Orte also, wo Glasfaserspezialisten, uralte Optikunternehmen oder Sektfürsten genauso selbstverständlich für den Weltmarkt produzieren und dabei nicht minder erfolgreich sind? Oder wer denkt an Berlin-Adlershof?

Wir müssen endlich lernen, mit gleichem Maß zu messen und dürfen unsere alten Klischees nicht permanent aufwärmen: Warum darf ein Münchner Fußballverein Hunderte Millionen Euro von Großsponsoren aus der Auto-, Hightech- und Versicherungsbranche einstreichen, ein Leipziger Club aber keine Gelder aus der Limonadenproduktion? Jeder Mensch verdient einen eigenen unvoreingenommenen Blick. Und jeder verdient den gleichen Respekt, egal ob in Ost oder West, zugezogen oder alteingesessen.

Klischees und Ablehnung erleben auch neue Zugezogene

Was die Ostdeutschen bemängeln, den fehlenden Respekt, erleben aktuell auch viele Zugezogene, die genauso mit Klischees und Ablehnung zu kämpfen haben. Wir erleben momentan, wie in unsere Gesellschaft neue Gräben eingezogen werden und viele alte, die eigentlich schon längst zugeschüttet schienen, wieder ausgehoben werden. Das ist eine Entwicklung, die mir Sorgen bereitet und bei der wir ganz schnell gegensteuern müssen.

Wir müssen uns auch endlich eingestehen, dass es ein Fehler war, die Grundlage unseres geeinten Staates nicht zu überarbeiten, so wie es die Mütter und Väter unseres Grundgesetzes im Falle einer Wiedervereinigung vorgesehen hatten. Nicht ohne Grund heißt das Werk „Grundgesetz“ und eben nicht „Deutsche Verfassung“. Nur hat das 1990 im politischen Bonn niemanden mehr gejuckt. Aber wie soll jemand Vertrauen in ein System fassen, das sich in einer so zentralen Frage wie der rechtlichen Basis selbst nicht an die festgeschriebenen Regeln hält? Ja, in den ersten Jahren nach der Wende wurden sehr viele Fehler begangen, besonders auf der westlichen Seite der Mauer. Ein gravierender Fehler war sicher, die (Ost-)Identität von Millionen Menschen nicht anerkennen zu wollen. Nur dürfen wir diese Fehler nicht weiter und weiter fortsetzen.

Deshalb sollten wir all denjenigen danken, die große Bürden auf sich genommen haben und täglich immer neue Hürden nehmen, um die deutsche Einheit zu vollenden. Es ist auch Zeit, endlich Entschuldigung zu sagen, für all die zwielichtigen Glücksritter aus dem Westen, für die arroganten Bevormunder und Raffhälse, die es den Ostdeutschen in den ersten Jahren nach 1990 nicht leicht gemacht haben. Und die das Vertrauen in die gemeinsame Demokratie von Anfang an schwer belastet haben. Es ist eine Schande, wie die Treuhand und ihre Helfershelfer, darunter viele westdeutsche Unternehmen, das Tafelsilber im Osten verscherbelt haben, wie sie skrupellos alles verschleuderten, was nicht niet- und nagelfest war.

Die Ost-Städte sind hübsch saniert, aber Ostdeutsche wohnen dort nicht mehr

Wer heute durch die renovierten Stadtzentren im Osten unseres Landes spaziert, der sieht fast überall schicke Gründerzeithäuser, barocke Kirchen und rekonstruierte Schlösser. Könnte der Spaziergänger auch hinter die Fassaden blicken, dann würde er außerdem erkennen, dass von den alten Bewohnern kaum noch jemand dort lebt. In Städten wie Leipzig, Dresden oder Jena wurde die einstige Bevölkerung immer weiter aus dem Zentrum hinausgedrängt, weil dort die Mieten exorbitant stiegen oder reiche Investoren oder Privatleute aus dem Westen ganze Häuserblocks kauften, so dass sich die Alteingesessenen die Wohnungen nicht mehr leisten konnten. Selbstverständlich schafft das Frust.

Frust begegnet man, indem man den Menschen Respekt und Anerkennung entgegenbringt. Wir müssen die Erfolge, die Errungenschaften des Ostens wertschätzen. Warum nicht den Internationalen Frauentag zum Berliner Feiertag machen? Als Signal, dass der Einsatz für Gleichberechtigung niemals aufhören darf. Aber auch als Zeichen an Millionen Ost-Deutsche, deren Identität und Erinnerung an diesen Tag anzuerkennen. Wir brauchen keine Ostalgie, aber eine ehrliche Beschäftigung mit dem einstigen Alltag der Menschen im Osten. Wo ließe sich diese Teilungserinnerung besser nachvollziehen als in Berlin? Hier verlief die Mauer mitten durch das Herz der Stadt. Hier wurden Familien zerrissen, Unrecht betoniert. Aber später wurde hier auch das schreckliche Bauwerk vom Volk gestürmt und abgetragen. Als Zeichen des Aufbruchs, der Hoffnung und des neuen Miteinanders. Wo ließe sich also besser erkennen, was 40 Jahre räumlicher und geistiger Trennung bedeuteten, als in Berlin? Und wo ließe sich besser begreifen, dass als letzter Schritt zur Vollendung der Einheit das Zuhören, das Verstehen und schließlich das Anerkennen fehlen.

Eigentlich ist es nicht so schwer, wir müssen dazu nur bereit sein. Wir Berliner können ein Vorbild sein. Lassen Sie uns am Tag der Deutschen Einheit damit beginnen!

Der Autor ist SPD-Fraktionschef im Berliner Abgeordnetenhaus

Raed Saleh

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