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Leer, aber nicht egal! Viele Dorfbewohner fühlen sich von der "hohen" Politik abgehängt.

© picture alliance / dpa

Der Verdruss der "abgehängten Regionen": Der Staat selbst sorgt für den Politikfrust

In der Kommunalpolitik dominiert das Gefühl der Geringschätzung und Missachtung durch die überregionale oder bundesweite Politik. Mit fatalen Folgen. Ein Essay.

Kommunalpolitiker haben es nicht leicht bei ihrer wichtigen Arbeit an der Basis des Staates. Hin und hergerissen zwischen den konkreten Wünschen und Sorgen der Bürger und den Vorgaben der hohen Politik müssen sie nun auch noch sich häufende Anfeindungen erfahren und lernen, damit umzugehen: Hassbotschaften, Drohungen per Mail oder auf offener Straße und Gewalttätigkeiten.

Für Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier war die Entwicklung Anlass, zwölf Bürgermeister im Schloss Bellevue zu treffen. Vor allem die Vertreter aus Landgemeinden beklagten sich darüber, dass sie und die Bürger sich mit ihren Sorgen allein gelassen fühlen, weil zum Beispiel die Polizei in den Dörfern und Kleinstädten nicht präsent sei. Der Bundespräsident zeigte Verständnis und fragte, wie man angesichts dieser Zustände und Stimmungen überhaupt noch Leute dafür begeistern solle, sich in der Kommunalpolitik, dieser „Schule der Politik“, zu engagieren. Kommunalpolitiker seien „das Gesicht und die Stimme der Demokratie“ und verdienten Respekt, Anerkennung und Rückendeckung aus der ganzen Gesellschaft, stellte Steinmeier bei dem Treffen im Juli heraus. Wer sie angreife, greife damit auch die „Wurzeln unserer Demokratie“ an.

Auf dem Land werden die "Wurzeln der Demokratie" nicht gepflegt

Die Aufmerksamkeit und die Besorgnis des Bundespräsidenten sind angemessen und wichtig. Mit den Problemen des Landes befassen sich die hohe Politik sowie die überregionalen Medien sonst oft nur, wenn über spektakuläre Ereignisse oder Gewalttaten zu berichten ist, deren Motive man schnell dem rechten oder linken Parteienspektrum zuordnen kann. Doch wo liegen die tieferen und längerfristig entstandenen Ursachen dieser Hass- und Gewalttaten? Sie dürften nicht selten ein kriminelles Ventil einer großen Frustration in Teilen der Bevölkerung darüber sein, dass ihre Bedürfnisse „vom Staat“ nicht ernst genommen werden. Hier kommt aber auch eine generelle, weit verbreitete und wachsende Politik- und Demokratieverdrossenheit in der Gesellschaft zum Ausdruck. Wer hat diese verschuldet?

Die „Wurzeln unserer Demokratie“ werden gerade auf dem Lande seit Jahrzehnten geschwächt, und der Staat in Gestalt von Bund und Ländern trägt eine wesentliche Mitschuld an dieser Entwicklung. Die verbreitete Unzufriedenheit und vielfache Resignation in den Dörfern und Landgemeinden hat eine bundesweit anzutreffende Hauptursache, die in den Entscheidungszentralen von Politik und Gesellschaft und den meinungsbildenden Institutionen kaum wahrgenommen oder ganz ignoriert wird: Die Kommunalpolitik ist durch demokratiefeindliche „Reformen“ und permanente Prozesse der Gängelung und Entmündigung schleichend „von oben“ entmachtet worden.

Fernsteuerung und Machtausübung von "oben"

Landgemeinden und Dörfer erfuhren und erfahren zu wenig Respekt und Unterstützung durch Bund und Länder, verfügen über zu wenige Möglichkeiten der freien Entscheidung und Gestaltung, unterliegen zu vielen Regeln und Hürden und hängen am Tropf immer neuer Fördertöpfchen, die weitgehend der Fernsteuerung und Machtausübung von oben nach unten dienen. Die Politik- und Demokratieverdrossenheit auf dem Land ist also kein Wunder, über das man rätseln kann – sie ist vom Staat gemacht.

Die Entmündigung des Landes hat auf zwei Ebenen stattgefunden, in den Landgemeinden und den Dörfern. Spricht man auf der Ebene der Gemeinden mit Bürgermeistern, Gemeinderäten und Vertretern der Verwaltungen oder liest man kommunalpolitische Publikationen, taucht immer wieder die Klage auf: „Wir können kaum noch etwas selbst gestalten.“ In der Kommunalpolitik dominiert das Gefühl der Geringschätzung und Bevormundung durch die überregionale oder bundesweite Politik. Die in Sonntagsreden stets hochgelobte Selbstverwaltung („Schule der Demokratie“) steht meist nur noch auf dem Papier. Es gibt zu viele rechtliche, planerische und bürokratische Vorgaben, zu viel Gängelung durch Landes- und Gebietsentwicklungspläne, zu viele Hürden der diversen Fachpolitiken, zu viele geradezu labyrinthische Antrags-, Bewilligungs-, Kofinanzierungs- und Evaluierungshürden.

Durch Landesentwicklungspläne wurde und wird Dörfern unter 2000 Einwohnern wie etwa in Nordrhein-Westfalen jegliche Wohnbau- und Gewerbeentwicklung untersagt, in Brandenburg hat man die für das Land so wichtigen Grundzentren gleich ganz abgeschafft. Kommunalpolitik ist ein permanenter und zermürbender Abnutzungskampf gegenüber den Ländern und dem Bund. Die im Staatsaufbau nach dem Subsidiaritätsprinzip vorgesehene und im Grundgesetz verankerte kommunale „Selbstverantwortung“ ist kaum noch eine solche, sie ist weitgehend eine Verwaltung von Aufgaben im Sinne von Vorgaben, die man selbst nicht beeinflussen kann. Zwei Beispiele: Beim Kampf um die dörfliche Schule oder bei der Ausweisung von Windvorranggebieten wurden und werden die Einwände, Vorbehalte und Argumente der Bürger und Kommunen nicht ernst genommen und durch ständig wechselnde Vorgaben von oben beiseitegeschoben.

Gebietsreformen haben die demokratische Basis beseitigt

Schaut man auf die Ebene der Dörfer, muss man feststellen, dass in mehr als 20.000 deutschen Dörfern und Kleinstädten eine bestehende demokratische Basis durch von oben diktierte, harmlos klingende „Gebietsreformen“ beseitigt worden ist. Die in Jahrhunderten aufgebaute und bewährte lokale Selbstverantwortung mit Bürgermeister und Gemeinderat wurde abgeschafft. Deutschlandweit sind bisher über 300 000 ehrenamtlich tätige Kommunalpolitiker „entlassen“ worden. Der Staat signalisierte damit: Wir brauchen eure lokale Kompetenz, euer Denken, Fühlen und Handeln für euer Dorf nicht mehr. Die Dörfer und Kleinstädte verloren ihre eigene demokratische Kraft und damit auch ihr Selbstwertgefühl, für ihr Dorf Kompetenz zu besitzen und verantwortlich zu sein. Wer soll sich heute noch zuständig fühlen im Dorf ohne gewählten Bürgermeister und Gemeinderat, wenn die Schule, die Bankfiliale, das Freibad, der letzte Gasthof oder Laden vor der Schließung steht? Das Fatale: Die große Kompetenz und Kraft des Dorfes, seiner Bürger und Kommunalpolitiker wird nicht mehr genutzt, sie wurde und wird weiter vom Staat getilgt.

Gebietsreformen sparen kein Geld - führen aber zu sozialen Verlusten

Inzwischen ist durch zahlreiche neue Studien belegt worden, dass Gebietsreformen keine finanziellen Einsparungen, aber verheerende demokratische, infrastrukturelle und soziale Verluste verursacht haben und weiter verursachen. In einer Metastudie zu den Auswirkungen von Gebietsreformen gelangten Forscher des Ifo Instituts in Dresden und vom Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung in Mannheim 2016 zu dem Schluss, dass sich „die vorab erhofften Einspareffekte weitgehend nicht bestätigen“ ließen. Gesunken seien stattdessen die Zufriedenheit mit der Gemeindeverwaltung und die Wahlbeteiligungen bei den Gemeinderatswahlen. Die Forscher nennen das „substanzielle politische Kosten“.

Durch Langzeitstudien wissen wir, dass selbständig gebliebene 1000-Einwohner-Dörfer in Bayern sich in ihrer Bevölkerungs-, Infrastruktur- und Immobilienwertentwicklung besser entwickelt haben als gleich große eingemeindete Dörfer. Wir wissen auch, dass Gebietsreformen nach dem Zentrale-Orte-Modell in den späten 1930er und frühen 1940er Jahren entwickelt und zum ersten Mal in der Praxis umgesetzt und zunächst bei der Überplanung der „eingegliederten Ostgebiete“ – mit dem „Führerprinzip“ begründet – in die Praxis umgesetzt worden sind. Trotz all dieser Erkenntnisse werden Gebietsreformen weiter betrieben – wie zuletzt in Brandenburg und Thüringen, wo man noch eine zweite Welle von Gebietsreformen durchsetzen wollte, nach Protesten aber davon absah.

Der Eindruck: Sorgen werden nicht wahrgenommen

Hier sehen die betroffenen Bürger, dass die Bürgermeister, Gemeinderäte und Verwaltungen immer weiter entfernt residieren, dass ihre Sorgen nicht mehr wahrgenommen werden und dass ihr lokales und demokratisches Denken und Handeln in ihren Dörfern und Kleinstädten nicht mehr gefragt ist. Das Vertrauen gegenüber dem Staat schwindet, Ohnmachtsgefühle und Wut stellen sich ein (ich habe diese Reaktionen tausendfach in Zuschriften und bei Vortragsveranstaltungen erfahren). Nicht- und Protestwähler sind die Folge. Gebietsreformen haben die Mehrheit der deutschen Dörfer und Kleinstädte durch den diktierten Verlust der lokalen Selbstverantwortung traumatisiert und zugleich die demokratische Basis des Staates massiv geschwächt.

Diese gerade in vielen mittel- und ostdeutschen Landregionen grassierende Wut auf den Staat wurde von dem jungen Görlitzer Lukas Rietzschel 2018 in seinem vielbeachteten und hochgelobten Debütroman „Mit der Faust in die Welt schlagen“ thematisiert und drastisch dargestellt. Die überregionalen Medien berichteten in ihren Feuilletons begeistert und ausführlich von der ungeschminkten Darstellung einer breiten Volksstimmung, wobei vor allem die nicht präsente, untätige und durch Gebietsreformen immer entferntere Kommunalpolitik angeprangert wird, in der ja der Staat eigentlich sein Gesicht zeigen will oder sollte. In der staatspolitischen Diskussion der überregionalen Medien wie der Politik ist diese brennende Thematik, hier von der Literatur präsentiert, leider bisher nicht angekommen.

Lieber Schützenverein als Dorfpolitik

Die vom Staat reduzierten Befugnisse und Freiräume in den Gemeinden und Dörfern haben nicht nur dauerhaft die kommunalpolitische Arbeit erschwert. Sie haben auch generell zu einem schlechten Image der Kommunalpolitik geführt. So gibt es in zahllosen Dörfern und Kleinstädten der Republik Probleme, Nachwuchs für den Gemeinderat zu gewinnen. Und vielerorts ist kein Bewerber bereit, für das Amt des Bürgermeisters oder Ortsvorstehers zu kandidieren. Es ist ein zunehmender Trend zu beobachten, dass viele für die Kommunalpolitik hochqualifizierte Bürger bewusst nicht in die Kommunalpolitik gehen, sondern lieber Vorstandsämter in Schützen-, Sport-, Musik-, Karnevals- und Kulturvereinen übernehmen, wo sie wirklich etwas bewegen können und die erfolgreiche Arbeit auch noch Spaß macht.

Die Geringschätzung der Kommunalpolitik durch die sogenannte „hohe“ staatliche Politik führt somit konsequent zu einer Geringschätzung bei den Bürgern. Gegen diese Missstände an der Basis des Staates muss dringend und nachhaltig angegangen werden. Dies erfordert ein gewaltiges Umdenken in den Zentralen der Macht in Bund und Ländern. Statt immer weiter seine zentralistischen Programme von oben nach unten durchzusteuern, sollte der Staat seine demokratische Basis „unten“ respektieren, stärken und wiederbeleben. Ist er dazu von sich aus in der Lage?

Wie das Wirtschaftssystem unterstützt auch das politische System das Große, nicht das Kleine. Die vielfältigen Verluste, die Dörfer und Landgemeinden durch Entmündigung, Entdemokratisierung, zu geringe Unterstützung und Kappung der Gestaltungsfreiheit erleiden, können an der Basis des Staates nur teilweise durch ein außergewöhnliches Engagement der Bürger und Kommunalpolitiker kompensiert werden.

Die Zentren unterschätzen die Dörfer und lassen Respekt fehlen

Der renommierte französische Politikwissenschaftler Pierre Rosanvallon ist in breit angelegten Studien zu der zentralen Erkenntnis gekommen, dass demokratische Instrumente zunehmend zum Zweck der Verhinderung von Gestaltung verwendet werden. Dies führe zu einer ernsten Krise der Demokratie, weil das Vertrauen der Bürger in die politischen Eliten geschwunden sei. Er fordert eine neue „Betätigungsdemokratie“ und spricht von einer notwendigen „zweiten demokratischen Revolution“. Erst wenn die Kommunalpolitik in den Dörfern und Gemeinden wieder Gewicht und Befugnisse bekommt, wird auch ihr Ansehen in der Bevölkerung steigen. Dann werden auch die Bürger wieder mitmachen, den Staat tragen zu helfen und sich mit dem Gemeinwesen solidarisieren.

In den Zentren von Politik, Medien, Kultur und Wissenschaft wird die Bedeutung des Wirtschafts- und Lebensraums Dorf für den Staat und die Gesellschaft häufig unterschätzt und zu wenig respektiert. Das Land ist jedoch für Staat und Gesellschaft genauso wichtig wie die Großstadt. Beide ergänzen sich und sind aufeinander angewiesen. Dorf und Land haben ökonomische, ökologische, kulturelle und soziale Potenziale und bringen diese auch in hohem Maße in die Gesamtgesellschaft ein. Sehr viele Menschen lieben das naturnahe und überschaubare Landleben – und gestalten dies mit Gemeinwohldenken und Anpackkultur. Dies sollte auch in Zukunft möglich sein.

Die Entscheider in Staat und Gesellschaft müssen die andauernde Entmündigung der Dörfer und Landgemeinden beenden. Sie sollten den Bürgern und Kommunalpolitikern auf dem Land mit viel mehr Respekt begegnen und ihnen mehr Unterstützung und vor allem Gestaltungsfreiheit zukommen lassen. Dann würden Dorf und Land gute Chancen haben zu überleben und ihre Kräfte neu entfalten.

Gerhard Henkel

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