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Klöße, Rotkohl und Gänsekeule: Für viele ist dieses Menü fester Bestandteil des Weihnachts-Rituals.

© Patrick Pleul/dpa-Zentralbild/dpa

Der Segen der Rituale: Warum Weihnachten immer alles so wie immer sein muss

Und jetzt alle! Regelmäßige Handlungsabläufe sind wie Fixpunkte im eigenen Universum – das zeigt sich gerade an den Feiertagen. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Am Morgen des Heiligen Abends wird der Tannenbaum geschmückt. Am Nachmittag sind die Kinder beim Krippenspiel. Zum Essen ertönt das Weihnachtsoratorium. Zum Nachnachtisch muss es Lebkuchen, Spekulatius, Nüsse und Mandarinen geben. Am Ende des Tages geht die ganze Familie in die Mitternachtsmesse. So war es, so ist es, so soll es bleiben. Jedes Jahr. Zumindest bei vielen. Andere Menschen haben andere Gewohnheiten. Aber kaum ein Mensch hat keine und gestaltet die Festtage immer neu.

Rituale geben Struktur, Halt und Sicherheit. Alle wissen, was wann und wie geschieht. Das Nachdenken, Begründen und Rechtfertigen entfällt. Es wird so gemacht, weil es stets so gemacht wurde. Das stiftet Identität, verbindet viele zu einer Einheit.

Ob kulturell oder religiös: Regelmäßige Handlungsabläufe sind wie Fixpunkte im eigenen Universum. Wie stark solche Abläufe verinnerlicht wurden, merken Menschen oft erst dann, wenn etwas anders ist. Keine Kerzen im Haus, mal ein anderes Festessen als sonst. Plötzlich fühlt sich der Tag nicht mehr richtig an. Etwas fehlt.

Das kann befreiend sein: Raus aus dem Korsett, weg mit den Fesseln! Ist es nicht erschreckend, jedes Jahr aufs Neue das Alte zu tun? Zeugt das nicht von fürchterlicher Fantasiearmut? In dem Drama „Dantons Tod“ von Georg Büchner sagt Danton: „Aber die Zeit verliert uns. Das ist sehr langweilig, immer das Hemd zuerst und dann die Hosen drüber zu ziehen und des Abends ins Bett und morgens wieder herauszukriechen und einen Fuß immer so vor den andern zu setzen; da ist gar kein Absehen, wie es anders werden soll. Das ist sehr traurig.“

Das Leben als eine lange Strecke regelmäßiger Taten. Da pendelt das Gemüt zwischen langweilig und traurig. Dennoch: Bewusst vollzogene Rituale unterscheiden den Menschen vom Tier.

Rituale sind auch versteckte Drohungen

In fast allen Kulturen und Religionen sind fünf Bereiche des Lebens normiert: die Ernährung, die Familie, Beziehungen und Sexualität, der Tod, Fest- und Feiertage. Je stärker die Prägung durch entsprechende Verhaltensregeln, desto langlebiger die Gemeinschaft.

Deshalb lassen sich Rituale auch als versteckte Drohungen verstehen: Wer sie nicht vollzieht, stößt sich aus der Gemeinschaft aus. Die Aufgeregtheiten etwa, wenn in Deutschland fromme Muslime oder orthodoxe Juden sich weigern, Frauen die Hand zu geben, zeugen davon, wie unerbittlich ein solcher Gruppendruck sein kann.

Freilich ist nicht jede feste kulturelle Gewohnheit ein religiöses Ritual. Wenn im Familienkreis „Oh Tannenbaum“ gesungen wird und im Radio „Driving Home for Christmas“ läuft, hat das mit Weihnachten als Fest der Geburt Jesu nichts zu tun. Im strengen Sinne sind es gar keine Weihnachtslieder. Die Lieder sind kulturell aufgeladen, zumindest in religiöser Hinsicht allerdings sinnentleert. Wie übrigens auch der Weihnachtsbaum selbst.

Alles soll wie immer sein. Die Sehnsucht nach Bekanntem, nach Ordnung und Stabilität floriert besonders in Zeiten, die als krisenhaft empfunden werden. Sind Rituale konservativ? Vor dieser Ansicht sei gewarnt. Rituale befreien das Denken vom ständigen Kreisen um alltägliche Dinge. Was das befreite Denken daraus macht, kann niemand wissen oder prophezeien. Manch Frommer und Traditionalist hat revolutionär gewirkt. Nicht nur zur Weihnachtszeit.

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